BERLIN (BLK) – Neben Cesare Pavese, Italo Calvino und Italo Svevo gehört er zu den wegweisenden Autoren der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts: Elio Vittorini. Seine „Conversazione in Sicilia“ (1941) und „Uomini e no“ (1945) gelten als Marksteine der Blütezeit des Neorealismus – des (neuen) Blicks auf die (neue) Wirklichkeit. Dieser Begriff hatte sich für eine bestimmte Art von Literatur eingebürgert, die sich schon unter dem italienischen Faschismus ankündigte. Von den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis in die frühen 1950er Jahre beherrschte der „neorealismo“ fast ausschließlich das kulturelle Feld. Eine Bestimmung des Begriffs bleibt dennoch vage, da es sich nicht um eine Schule mit einem ausformulierten ästhetischen und ideologischen Programm handelte.
Elio Vittorino wurde am 23. Juli 1908 in Syrakus geboren. Sizilien wird für ihn ein in die Zukunft weisendes Projekt, denn durch seinen Vater, einen Eisenbahner, lernt er die ganze Insel kennen. Nach dem Besuch der Handelsschule verlässt er 1924 nach mehreren Ausreißversuchen Sizilien endgültig. 1930 zieht er nach Florenz, wo er bei der Zeitung „La Nazione“ eine Anstellung als Korrektor findet. Aufgrund einer Bleivergiftung muss er 1934 seine dortige Stelle aufgeben. Von da an lebt er ausschließlich von seinen Literaturübersetzungen aus dem Englischen (u. a. William Faulkner und Edgar Allan Poe) und von seiner publizistischen Tätigkeit.
Schriftstellerische Erweckungserlebnisse erfährt der Syrakuser im Umkreis der Literaturzeitschrift „Solaria“ mit den sich stilistisch an Proust, Svevo und Joyce orientierenden Erzählungen von „Piccola borghesia“ (1931). In diesen versuchen kleinbürgerliche Helden vergeblich, aus der Mittelmäßigkeit ihrer Existenz zu fliehen.
In der „Solaria“ ist auch Platz für die introspektiv lyrische Prosa des jungen Elio Vittorini. Die von dem zwanzigjährigen Alberto Carocci in Florenz gegründete literarische Monatsschrift „Solaria“ (1926-1936), die sich ohne explizite Programmatik präsentiert, wird zu einer der wichtigen kulturellen Schaltstellen in der Zeit des Faschismus. Sie beschränkt sich auf literarische Themen und verzichtet auf die kontroverse Debatte. Die problembezogene Präsentation von Schriftstellern wie Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, André Gide oder Paul Valery machte die Zeitschrift zum Zentrum der Erneuerung der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Im Roman „Il garofano rosso“ („Die rote Nelke“) – der 1932/33 in der „Solaria“ in Auszügen erschien, dann Opfer der faschistischen Zensur wurde und schließlich erst 1948 vollständig veröffentlicht werden konnte – ist der Protagonist der Sohn eines Fabrikbesitzers, der sich gegen die bürgerlichen Normen wie gegen den scheinheiligen Sozialismus des Vaters auflehnt. Als Arbeitersympathisant und Linksfaschist bleibt er den Behörden verdächtig. Von seiner ersten Liebe bekommt er eine rote Nelke geschenkt, die er daraufhin immer im Knopfloch trägt. Die Vollendung seines Erwachsenwerdens erfährt er durch eine sympathisch gezeichnete und zugleich geheimnisvoll bleibende Prostituierte.
Die erzählerisch und weltanschaulich heterogene Struktur des zusätzlich von der Zensur verstümmelten Textes markierte eine erzählerische Krise Vittorinis, die er mit „Viaggio in Sardegna“ (1936) zu überwinden beginnt, als er zum ersten Mal die Reise als Erkenntnismodell und Modus der Wiedergewinnung von Lebenssinn erprobt. Die Hauptfigur von „Conversazione in Sicilia“ kommt aus der Arbeiterklasse. Vittorini, der langsam zum Faschismus auf Distanz geht, versieht seinen Helden mit der Haltung einer „abstrakten Wut“, deren Heilung im mythischen Projektionsraum Siziliens erfolgt.
Angesichts der immer offensichtlicher werdenden Widersprüche zwischen der faschistischen Propaganda und der gesellschaftlichen Realität wuchs ab Mitte der 1930er Jahre der Widerstand von Künstlern und Intellektuellen, selbst wenn nicht wenige von ihnen dem Faschismus gegenüber anfangs eher positiv eingestellt waren. Nicht nur für Vittorini wurde hierbei das Engagement Italiens gegen die Republik im Spanischen Bürgerkrieg zu einem Wendepunkt. In einem Artikel der Zeitschrift „Bargello“ forderte er als Angehöriger des linksintellektuellen Flügels der italienischen Faschisten seine Partei offen dazu auf, die republikanischen Kräfte zu unterstützen, was zu seinem Ausschluss aus dem PNF („Partito Nazionale Fascista“) führte.
Ab 1942 beteiligte er sich aktiv an der Resistanza und näherte sich im Untergrund zunehmend der kommunistischen Partei Italiens (PCI) an, deren Mitglied er 1945 wurde. Dem heutigen Leser erscheint Vittorini weniger „realistisch“ als „modern“. Aufgrund der Tatsache, dass einige der berühmten neorealistischen Autoren sich in der Resistenza und später im PCI engagiert haben (neben Vittorini Italo Calvino und Cesare Pavese), gilt der Neorealismo als dezidiert außerliterarisch bestimmt – als Produkt der Resistenza und ihres politischen, vorwiegend sozialistischen Vermächtnisses.
Bei Vittorini wirkte sich die Erfahrung von Einsamkeit sowie die Berührung mit der Fremde und mit anderen gesellschaftlichen und kulturellen Milieus anregend aus: Seine Helden wurden die Unangepassten, die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, die im Lebenskampf Unterlegenen. In sie projizierte Vittorini persönliche und kollektive Erfahrungen. Die Art, wie sich der Held in seinem „Uomini e no“ dem sozialistischen Nachkriegs-Aufbauwerk durch einen Quasi-Selbstmord entzieht, lässt die Schwierigkeiten ahnen, welche die im PCI engagierten Schriftsteller haben werden, ihre an den Verlust eines einheitlichen Weltbilds gebundene moderne Art zu schreiben, mit den fortschrittsgläubigen Imperativen der Partei zu vereinbaren.
1951 begründet Vittorini in einem Artikel der Tageszeitung „La Stampa“ sein immer größer werdendes Unbehagen mit der PCI, welches er in diesen Jahren mit zahlreichen Intellektuellen teilte. Ein weiterer Ausdruck seines in die Krise geratenen poetologischen Selbstverständnisses ist sein Versuch, den blutig niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn (1956) in einem unveröffentlicht gebliebenen Drama aufzuarbeiten. Da er seinem eigenen Anspruch einer stets innovativen und mehr der Gewissheit als der Ästhetik verpflichteten Literatur nicht mehr gerecht werden konnte, gibt er das literarische Schreiben in seinen letzten Lebensjahren ganz auf.
Der seit 1963 schwer erkrankte Vittorini war zuletzt beim Verlag Einaudi tätig und starb am 12. Februar 1966 in seiner Mailänder Wohnung. Seine Betrachtungen und Gedanken zur Literatur wurden in dem postum erschienenen Band „Le due tensioni“ (1967) zusammengetragen.