Von Thomas Borchert
„Kredit ist Vertrauen, eingezahlt in eine Blase“ sagt, süffisant lächelnd, Hans Magnus Enzensberger im Gespräch über Karl Marx und sein „Kapital“ vor laufender Kamera. Dass der Satz des Schriftstellers im Gespräch mit dem Kollegen und Filmemacher Alexander Kluge derzeit viel weniger mysteriös klingt als noch vor kurzem, ist der Finanzkrise zu „verdanken“. Trotzdem malen beide in Kluges grandioser neuer DVD-Sammlung „Nachrichten aus der ideologischen Antike“ vorsichtshalber noch ein bisschen aus, was in der Krise passiert: Ist das Vertrauen weg, gibt es keine Kredite. Die Blase platzt gewaltig.
Kluge, mit 76 Jahren offenbar alles andere als müde, hat für die neue „filmedition suhrkamp“ einen neunstündigen Film zur Wiederentdeckung des marxschen Hauptwerkes vorgelegt. Listig, oft lustig, fast immer spannend, voller Widersprüche und verblüffend aktuell wird hier „Das Kapital“ als gewaltiger Steinbruch präsentiert, aus dem auch heute wertvolle bis edle und vielleicht sogar für das Überleben der Menschen wichtige Rohstoffe zu holen sind.
Bei der Suche danach wechselt Kluge ständig die Stilmittel, ohne hektisch zu werden. Erst präsentiert er das nie realisierte Wahnsinnsprojekt des sowjetischen Filmgenies Sergej Eisenstein. Der wollte „Das Kapital“ mit derselben Methode verfilmen, mit der James Joyce seinen „Ulysses“ geschrieben hatte. Davor, danach und immer wieder lesen Schauspieler oder auch mal der Filmemacher selbst Textstücke aus dem Riesenwerk des 1883 gestorbenen Philosophen mit dem Rauschebart vor.
Mal sind sie verkleidet als Offiziers-Aspiranten der DDR-Volkspolizei, die sich mit der Zwangslektüre des „Säulenheiligen“ auf eine Prüfung vorbereiten. Oder ein Steinzeitmensch liest gemeinsam mit dem Marx-Gefährten Friedrich Engels vor. Der Komiker Helge Schneider macht sich als arbeitsloser Hartz-IV-Empfänger seine Gedanken über die Aktualität von Band 23 der „Blauen Bände“ von Marx und Engels.
Zwischendurch äußern sich im Gespräch mit dem Autor neben Enzensberger kluge Köpfe wie der Philosoph Peter Sloterdijk, der Lyriker Durs Grünbein und Kluges früherer Schreibgefährte Oskar Negt („Öffentlichkeit und Erfahrung“). Der Sozialwissenschaftler Negt ist in dieser Garde der einzige mit Krawatte und der einzige, dessen Bücher nicht bei Suhrkamp verlegt werden. Er schlägt den ernsthaftesten und am wenigsten verspielten Ton an. Die Aktualität der Marxschen-Kapitalanalyse ist für ihn in der Zeit der Globalisierung offensichtlich: „Jetzt funktioniert das Kapital zum ersten Mal so nackt, wie Marx es beschrieben hat.“ „Höchst aktuell“ sei auch dessen Analyse von Reichtum und Überfluss durch die alles sprengende Dynamik des Kapitals, die nur wenigen zu Gute komme.
Kluge mischt bei diesen Gesprächen mit pfiffigen Einwürfen, brillanten assoziativen Gedankenspielen und klugen Nachfragen munter aus dem Off mit. „Marx-Sätze wirken doch mit Musik unterlegt ganz anders“, sagt er mit seiner sanften Stimme und führt es vor. Mal hört man sie, von klassischen Pianisten untermalt, mal liest er zu dröhnender Rockmusik: „Die Menschen stehen neben der Produktion als Anhängsel ihres eigenen Daseins.“ Der Regisseur Tim Tykwer steuert einen eigenen, raffiniert digital bearbeiten Film „Der Mensch im Ding“ bei.
Kluges Freude an guten Geschichten ist ansteckend. Der Schwarze Freitag 1929 mit dem New Yorker Börsenkrach hat etliche hervorgebracht, die er gerne in Wort und Bild präsentiert: Wie zum Beispiel die Sowjet-Regierung ernsthaft überlegte, ob sie angesichts gegen Null tendierender Aktienkurse das kapitalistische Weltsystem nicht einfach mit Smaragden und anderen Schätzen aus der Staatskasse kaufen solle. Aus dem Plan wurde, wie bekannt, nichts. Aus Marx als offiziellem Staatsphilosophen langfristig auch nicht. Zur Beförderung von neuer Aktualität und Sprengkraft im Angesicht der Finanzkrise hat Enzensberger im Gespräch mit Kluge, süffisant lächelnd, einen kleinen Lektüre-Tipp: „Marx ist am besten, wenn man ihn heimlich unter dem Tisch liest.“
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Literaturangaben:
KLUGE, ALEXANDER: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. 3 DVDs, ca. 580 Minuten, 29,90 €.
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