Bücher über die italienische Mafia, vor allem über die sizilianische „Cosa Nostra“, gibt es in Italien in großer Zahl: Reportagen, soziopolitische Analysen, Kriminalromane. Viele sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Über die calabresische „’Ndrangheta“ oder die apulische „Santa Corona Unita“ sind es schon weniger, im Falle der napoletanischen „Camorra“ schmilzt ihre Zahl noch mehr, obwohl diese Verbrecherorganisation von allen die größte ist: Der heute 28-jährige Reporter Roberto Saviano behauptet gar: „Auf jeden sizilianischen Mafioso kommen zwei campanische Camorristen, auf jedes Mitglied der ’Ndrangheta“ sogar acht. Das Drei-, ja Vierfache der anderen Organisationen. Da der Mafia mit ihren Bomben eine geradezu obsessive Aufmerksamkeit geschenkt wird, sind die Medien so weit abgelenkt, dass die Camorra praktisch unbekannt bleibt.“
Das hat sich gründlich geändert, seit 2006 „Gomorrha“ erschien, eine „Reise in das Reich der Camorra“, geschrieben von eben jenem Roberto Saviano. Das Buch erreichte in wenigen Monaten in Italien eine Auflage von über 800.000 Exemplaren. Zahlreiche Übersetzungen sind in Arbeit, die deutsche ist gerade erschienen. Der Autor hält sich mit Polizeischutz an einem verborgenen Ort auf, einer der Clans der Camorra hat über ihn so etwas wie eine Fatwa verhängt: Jedes Mitglied der Verbrechervereinigung, das ihm begegnet, kann ihn einfach umbringen. Was macht den „Erfolg“ dieses Buches aus? Beim Publikum und bei der Camorra selbst?
Saviano ist in Casal di Principe geboren, einer Kleinstadt im Norden der Provinz Neapel, die fest im Griff der „Casalesi“ ist, der derzeit mächtigsten Camorra-„Familie“, die vor allem mit Bauunternehmen und Müllhandel (neben den üblichen Geschäftsfeldern: Drogen- und Waffenschmuggel, Prostitution, Geldwäsche, Schutzgelderpressung) immens reich geworden ist. Derzeit benutzt sie laut Presseberichten ihre märchenhaften Profite dazu, in Mailand und anderen Großstädten ganze Straßenzüge aufzukaufen. Auch an Banken halten sie bereits Anteile.
Der letzte Satz von Savianos Buch heißt trotzig: „Ihr verfluchten Dreckskerle, ich lebe noch.“ Vorher aber hat er in einer literarisch ertragreichen Mischung das Porträt einer Stadt und ihres Umlandes geschrieben, in dem es keine Hoffnung auf Änderung mehr zu geben scheint. „Gomorrha“ beinhaltet Reportagen des Augenzeugen, der er war, pointierte Kurzgeschichten über einzelne Figuren, aber auch aus hunderte von Metern umfassenden Akten der Untersuchungsbehörden und den Protokollen der Gerichtsverhandlungen gegen Camorristi.
Saviano hat sich im Herzen der Finsternis bewegt. Und er nennt Namen: nicht nur die der Bosse, die in schneller Folge wechseln. Sondern auch diejenigen, die als korrupte Lokalpolitiker und Auftraggeber mit sehr weißem Kragen das „System“ (wie die Camorristi ihre Clans selbst nennen) in Gang halten. Wahrscheinlich ist es dies, was die allgemeine Aufmerksamkeit erregt hat: es stört die Geschäfte.
Der Autor zeigt, wie in kleinen Sozialwohnungen, vor allem in den an der nördlichen Peripherie Neapels gelegenen Orten, die Modelle der Mailänder Haute couture gefertigt werden. Für Hungerlöhne. Die Manager veranstalten regelrechte Auktionen: der billigste und vor allem schnellste Anbieter bekommt den Zuschlag, die Unterlegenen können ihre nachgeschneiderten Modelle dann über die Camorra auf den Märkten für Raubkopien in Europa und Asien absetzen.
In Secondigliano und anderen Orten der napoletanischen Peripherie sind inzwischen, nach einer jahrelangen gedeihlichen Zusammenarbeit zwischen Camorra, Billiglöhnern und Modehäusern, die Chinesen eingefallen. Es gehört für einen Ökonomem zu den spannendsten Kapiteln, bei Saviano nachzulesen, warum diese chinesischen Textilfirmen nun in Campanien produzieren lassen, statt in der chinesischen Provinz: die Moden wechseln so schnell, dass der Transportweg zu lang geworden ist, da „übernimmt“ man lieber die vorhandenen Strukturen.
In einem Kapitel geht es um die berührende Geschichte vom Meisterschneider Pasquale, der besser als jeder andere die Entwürfe aus Mailand nähen konnte und der, für ein paar Euro mehr, chinesische Schneider und Schneiderinnen (die illegal ins Land kamen) anlernte, denn die Modehäuser verlangen höchste Qualität. Als Pasquale in einer TV-Sendung entdeckte, dass Angelina Jolie bei einer Oskar-Verleihung einen von ihm geschneiderten weißen Hosenanzug trug (er konnte nur von ihm sein: er war der Beste!), gab er die Schneiderei auf und wurde Lastwagenfahrer im Dienst der Camorra. Seine Ehre war verletzt.
Saviano hat Pasquale oft getroffen und ausführlich mit ihm geredet. Das Geschäft aber läuft weiter, die feinen Modeschöpfer bedienen sich noch immer der guten Arbeit in Neapel. Hauptsache gut genäht und nicht zu teuer. Nur sitzen jetzt in vielen Fällen Menschen aus Fernost an den Nähmaschinen. Den Profiten sieht man ihre Herkunft ja nicht an. Und je mehr die ehrenwerten Firmen aus vielen Branchen (die im industrialisierten Norditalien und in halb Europa sitzen), sich von der Camorra das schmutzige Geschäft vergolden lassen (wobei diese einen gehörigen Batzen abbekommt), desto lauter protestieren sie auf ihren Versammlungen gegen die römische Regierung und die unermesslichen Subventionen, die in den Süden Italiens fließen. Dabei sind sie Teil des Problems – und kein geringer.
Doch es gibt Schlimmeres als dieses miese Geschäft, bei dem zahllose kleine Leute bei zehnstündiger oder zwölfstündiger Arbeit am Tag um die achthundert Euro im Monat verdienen. „Die kriminelle Organisation ist identisch mit der Ökonomie, die Dialektik des Geschäfts ist das Knochengerüst des Clans.“ Das gilt selbstverständlich auch für den über ganz Europa ausgedehnten Rauschgifthandel – vor allem mit Kokain, auf das die Camorra beinahe das Monopol hat. Saviano hat selbst einmal an einer Schmuggelaktion teilgenommen, bei der der Rohstoff an einer einsamen Bucht gelöscht wurde. Er hat erlebt, wie neue Verschneidungspraktiken des „Stoffs“ an Süchtigen ausprobiert wurden. Ging die Versuchsperson dabei drauf, so wusste man, dass die Mischung nicht richtig gewesen war.
Er hat die Geschichte der Clanabfolgen aufgeschrieben, von Boss zu Boss, von Familie zu Familie. Die meisten der Bosse kommen jung in die Führungspositionen und die wenigsten werden alt. Die kleinste Schwäche führt zum Aufstand und die daraus erwachsenen „Kriege“ werden mit größter Grausamkeit geführt, Folter und Tod gehören zum Alltag. Saviano hat nachgezählt: Seit 1979, dem Jahr seiner Geburt, waren es über 3600 Ermordete.
Die, die solche „Revolutionen“ überleben, mit denen sich die Camorra ständig verjüngt, dabei immer „moderner“ wird, sich an die Usancen der neoliberalen Wirtschaft anpasst und in Schnelligkeit, Erfindungsreichtum und Rücksichtslosigkeit weit in den Schatten stellt, werden irgendwann doch von den Behörden aufgegriffen und häufig zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.
„Ein Boss, der zu lange an der Macht ist“, schreibt Saviano, „würde die Preise in die Höhe treiben, entschlossen, auf Expansion zu setzen, die Märkte monopolisieren und damit lähmen; er würde nur in bewährte Segmente investieren und keine neuen Märkte mehr erschließen. Er wäre kein Nutzbringer für die kriminelle Wirtschaft.“ Die Bosse der ersten und zweiten Generation sind (abgesehen von sehr wenigen Untergetauchten oder im Ausland lebenden) entweder tot oder im Gefängnis.
Die Camorristi wissen: Sie leben für den Augenblick, dafür, in kürzester Zeit reich zu werden. „Die Logik des kriminellen Unternehmertums, das Denken der Bosse ist identisch mit radikalstem Neoliberalismus. Er diktiert, ja erzwingt die Regeln des Geschäfts, des Profits, des Sieges über alle Konkurrenten. Alles Übrige zählt nicht. Existiert nicht.“
Was danach kommt, interessiert sie nicht besonders. Ihnen ist klar, dass sie den größten Teil ihres immensen Reichtums (anders als russische Oligarchen) nie wirklich genießen können. Teurer Schmuck, schnelle Autos, rauschende Feste – das alles gibt es, aber kaum einer der Bosse hat sich je in den fürstlichen Residenzen, die sie sich errichten lassen, lange aufhalten können. Als steckbrieflich Gesuchte leben sie dann in Kellerverliesen - bis die Polizei kommt.
Die kommt allerdings zu selten und meist erst, wenn die Wachablösung auf der Kommandobrücke des Clans (oder einer Vereinigung von Clans, die sich für bestimmte Geschäfte zusammenschließen) bereits stattgefunden hat – erst dann beginnen die „Pentiti“ (Kronzeugen) auszupacken. Bis dahin können sich die Kriminellen auf die stillschweigende Duldung jener Provinzpolitiker verlassen, denen sie Wählerstimmen zutreiben und auch sonst alles mögliche Gute tun.
Saviano zeigt das Bild, das sich bietet, in aller Offenheit: „Nicht weniger als einundsiebzig Gemeindeverwaltungen in Campanien sind seit 1991 bis heute abgesetzt und unter staatliche Aufsicht gestellt worden. Nur neun der zweiundneunzig Kommunen der Provinz Neapel standen nie unter vorübergehender staatlicher Verwaltung, wurden nie Gegenstand von Ermittlungen und standen nie unter Beobachtung. Die Firmen des Clans haben die Bebauungspläne beeinflusst, haben sich in die Gesundheitsämter eingeschlichen, haben Grundstücke aufgekauft, unmittelbar bevor sie als Baugrund ausgewiesen wurden und dann darauf als Subunternehmer Einkaufszentren hochgezogen, sie haben Patronatsfeste erzwungen und dafür ihre Dienstleistungsfirmen angeboten, die vom Catering über die Reinigung, den Transport bis hin zur Müllabfuhr alles übernahmen.“
Auch das bringt Geld. Das haben inzwischen auch die Frauen der Carmorristi begriffen: einige von ihnen sind gar (auf Zeit) Clan-Chefinnen geworden. Das undurchdringliche Wurzelwerk von Politik und Verbrechen, das sich in den langen Jahrzehnten unumschränkter Herrschaft der Christdemokraten in Campanien herausgebildet hat, können die in aller Regel unterbesetzten Verfolgungsbehörden, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte, nicht mehr ausjäten, zumal das italienische Justizsystem mit seiner Langsamkeit sowie eine Schar von hoch professionellen Anwälten ihnen das Leben zusätzlich schwer machen.
Auch der „Müllnotstand“ in Campanien, von dem die Presse in diesem Sommer ausführlich berichtete, hat mit der Camorra zu tun: Es gibt zahllose illegale Müllkippen in der Region, auf dem der Giftmüll von Norditalien und sogar aus anderen europäischen Ländern abgeladen wird, weil es weit billiger ist, ihn der Camorra zu überlassen, als ihn legal zu entsorgen.
So blieb der Hausmüll der Bewohner Neapels und des Umlands einfach liegen und stank zum Himmel. Denn die offiziellen Deponien sind voll, moderne Verbrennungsanlagen werden wegen der Proteste der Anwohner (hinter denen auch die Camorra steht) nicht gebaut: das Geschäft läuft weiter. Es hat sich, wie alle anderen Betätigungsfelder der Clans, nach streng kapitalistischen Regeln entwickelt und ist heute stark genug, um dem Staat eine Nase zu drehen.
Wenn es keine legale Arbeit gibt, ist die Versuchung, es mit illegaler zu probieren, für junge Leute unwiderstehlich. „Ein Camorrist genießt ein ganz anderes Ansehen als ein Küchenjunge, die Mädchen würden ihn nie als Loser verachten. Diese aufgeplusterten Kids, diese lächerlichen Kuriere, die aussehen wie amerikanische Footballspieler im Kleinformat, wollen nicht Al Capone werden, sondern Flavia Briatore, keine Revolverhelden, sondern Geschäftsleute, die sich mit Models schmücken können.“
Aber zum Ansehen, zu ihrer „Würde“ gehören bei allen Camorristi – sie mögen so jung sein wie sie wollen, Mitglieder eines Clans oder nur externes Hilfspersonal – eben auch die Waffen. Mord ist ein Geschäft und der Besitz einer Kalaschnikow macht (halb)stark. Über diese enorm effektive Waffe hat Saviano eine besondere Geschichte erzählt, die von einem Camorristen handelt, der eigens nach Russland gefahren ist, um den greisen Erfinder dieser phantastischen Waffe zu besuchen.
Saviano kennt die Mentalität seiner Landsleute genau. Selbst wurde er vom Vater (einem Arzt) schon in frühesten Jahren im Gebrauch einer Pistole unterwiesen. Gleichwohl will er sich mit dem, was er so episoden- und faktenreich erzählt, nicht abfinden. Deshalb schiebt er die Geschichte eines Helden ein, des jungen Priesters Don Peppino Diana, der in seiner Heimatstadt Casal di Principe mit seinen Predigten und seinem zivilgesellschaftlichen Engagement die Gläubigen und vor allem die Jugend, für ein anderes Leben als das eines Verbrechers zu begeistern.
Er war dabei zu erfolgreich. 1994 wurde er erschossen, und das Entsetzen und die Wut der Bevölkerung über den Mord hielt nicht länger an, als das auch bei der Ermordung der sizilianischen Staatsanwälte Falcone und Borsellino der Fall war. Doch die wurden immerhin zu Ikonen. Von Don Peppino spricht niemand mehr: außer Saviano.
Der will seine Heimat nicht dem Verbrechen überlassen. Also kämpft er als einsamer Reporter weiter gegen die, die über ihn das Urteil schon gesprochen haben. Wer sein Buch liest, der begreift, was dazu gehört, die Camorra zu besiegen. Zum einen ist es die Aufkündigung des fatalen, kapitalistischen Zusammenhangs zwischen den ach so sauberen und in die schmutzigen Geschäfte verwickelten Firmen des Nordens und der Welt des Verbrechens. Zum anderen geht es um die Verstärkung polizeilicher Präsenz, schnellere Verurteilungen der Kriminellen.
Außerdem ist die Schaffung legaler Arbeit, die mehr als nur einen Hungerlohn einbringt, ein wichtiger Punkt. Auch die konsequente Verfolgung aller Politiker, auch der unbedeutendsten, die sich mit der Camorra einlassen und die oft nach Verbüßung ihrer Strafen wieder in Amt und Würden kommen, ist mangelhaft. Viele von ihnen wurden wieder Bürgermeister, einige sitzen sogar im römischen Parlament. Schließlich hofft Saviano auf die Veränderung einer in Jahrzehnten (wenn nicht Jahrhunderten) gewachsenen Mentalität, die es den einfachen Leuten empfiehlt, sich zu ducken und wegzusehen oder das kriminelle Spiel mitzuspielen.
Große Hoffnungen hat Saviano zwar nicht, aber aufgeben will er auch nicht. „Ich sehe und ich höre, ich beobachte und rede, und so lege ich Zeugnis ab – ein unschönes Wort, das umso mehr Gültigkeit besitzt, wenn es demjenigen, der dem Sirenengesang der Macht lauscht, ins Ohr flüstert: ‚Glaub nicht, was man dir sagt’. Die Wahrheit ist parteiisch. Ich weiß es und ich habe Beweise. Also erzähle ich. Erzähle von dieser Wahrheit.“
Hoffentlich hat er noch lange Gelegenheit dazu.
Literaturangaben:
SAVIANO, ROBERTO: Gomorrha. Reise ins Reich der Camorra. Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Carl Hanser Verlag, München 2007. 336 S., 21,50 €.
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