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Von Dabbawallas und heiligen Kühen

Andreas Altmanns Reise-Reportage "Notbremse nicht zu früh ziehen!"

Von: STEFANIE HARDICK - © Die Berliner Literaturkritik, 11.12.03

 

Ein blonder Mann sitzt am Strand eines südlichen Meeres. Barfuss, das Hemd offen, im Mund ein Zigarillo und auf der Nase ein selbst auf dem Schwarz-Weiß-Foto gut erkennbarer Sonnenbrand. Auf dem Schoß hält er einen aufgeklappten Laptop. Mit einem Seufzer beginnt der Leser Andreas Altmanns Reisebericht "Notbremse nicht zu früh ziehen!". So hat das Leben eines Reporters auszusehen: Weit gereist an südlichen Gestaden wird die Kreativität nicht lange auf sich warten lassen.

Was der Autor dann auf den folgenden knapp 190 Seiten ausführt, bestätigt so manches Klischee. Und doch widerspricht Andreas Altmann der Vermutung, die der Betrachter jenes vorangestellten Fotos hegen mag: "[Ich] fliehe in die Träume vom Sonnyboy, der ich gern wäre: Der mit braun gebrannten Unterarmen und dem Fernfahrerwind im Haar die Welt umrundet. Jederzeit ein schnelles Lächeln auf den Lippen, unheilbar gesund, in alle vier Himmelsrichtungen strahlend. Das tatsächliche Leben ist anstrengender. Kurz vor Antritt der Reise kuriere ich meine letzte Krätze aus. Von der vorletzten Reise. Davor Malaria, davor Dengue-Fieber. [...] Ich will kein Sonnyboy sein, ich will die Wunden."

Sehnsuchtsort der Deutschen

Der Leser ist ihm dafür dankbar. Schließlich wirkt kaum ein Land der Welt auf Europäer – und auf Deutsche ganz besonders, man denke nur an Hesse – so geheimnisvoll und anziehend wie Indien. Man braucht den Namen nur zu nennen und schon öffnen sich ganze Schubladenschränke voll mit Sitar-Musik, Hare-Krishna-Jüngern oder alternativ den Leprakranken einer Mutter Theresa. Andreas Altmann weiß, für wen er schreibt. Gewissenhaft sucht er die Sehnsuchtsorte seiner Leser auf, bestätigt manchen Traum und zerstört andere. Denn vor allem weiß Andreas Altmann, wovon er schreibt.

Der Reporter lebte selbst eine Zeitlang in einem Ashram im westindischen Poona. Und auch wenn ihn die Liebe zu Indien nicht blind gemacht hat für die Schattenseiten des Subkontinents, hat er das begeisterte Staunen nicht verlernt. Dank seines Reportagestils, für den er 1992 mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet wurde, nimmt der Leser teil an seiner neuerlichen Reise mit dem Zug durch Indien. Reiseberichte können tödlich langweilen, "Notbremse nicht zu früh ziehen!" ist zugleich wunderbar skurril, witzig und nachdenklich.

Mit den Augen eines Europäers

Altmann sieht Indien mit den Augen eines Europäers – als Deutscher gibt er sich auf Reisen ungern zu erkennen. Und so ganz kann er die Verwunderung darüber, dass Indien so ist, weil es die Inder anscheinend so wollen, doch nicht abschütteln. Kühe auf den Straßen, ein hoffnungslos marodes Eisenbahnnetz, unsäglicher Lärm, Müll, Verkehrschaos, dazu die zum Teil menschenverachtende Ignoranz der indischen Mittel- und Oberschichten. "Natürlich träumen Inder von einem wie Deutschland aufgeräumten Land. Aber der Traum ist nicht hartnäckig, nicht possessiv. Ihn wahr machen, wirklich, unwiderruflich, mit allen Konsequenzen, mit allen Ängsten, mit allen Beschränkungen? Nein, wollen sie nicht. Dafür sind sie zu verliebt in ihr 'Mutterland', zu abhängig von seinem Zauber, seiner Großzügigkeit, seiner Leichtigkeit. Jeden Tag fluchen sie auf Indien, und jeden Tag spüren sie diese abgöttische Liebe."

Altmann geht es ähnlich. Er begegnet Taxifahrern, die ihn gnadenlos ausnehmen und kurz darauf erlebt er eine Großzügigkeit der Ärmsten, die in Deutschland selbst bei Wohlhabenden kaum vorstellbar wäre. Der Reporter begegnet beidem mit jenem trockenen Humor, der die Reportage so lesenswert macht. Warum der indische Doktor von Europäern die zehnfache Summe verlangt, ist schließlich leichter zu durchschauen, als der Titel "M.B.B.S.D.T.C.D.M.C.C.P." vor seinem Namen. Unermüdlich fragt sich der Reporter tief hinein in die indische Seele, wenn er die Rätsel des indischen English zu ergründen sucht, "private diseases" und "running rooms" enträtselt.

Drei Stärken

Andreas Altmann bleibt dem Leser nichts schuldig: Vom Sex-Guru über den Fakir bis hin zu den Leprakranken wird das gesamte Personal jedes Indien-Berichts abgeklappert und befragt. Die Geschichten, die sich hinter diesen scheinbaren Klischees verbergen, überraschen. Doch Altmann hat neben der Direktheit seiner Fragen und dem Witz seines Berichts auch noch eine dritte Stärke: Journalistische Recherche, mit der er unserem Indien-Bild neue Puzzlestückchen hinzufügt.

So erfährt der Leser zum Beispiel von den "Dabbawalla", den Blechdosen-Männern, die es nur in Mumbai gibt. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin "Forbes" verlieh diesen Lieferanten, die allesamt Analphabeten sind, ein "6 Sigma"-Prädikat. Das bedeutet, dass sie mit einer 99,999999-prozentigen Zuverlässigkeit den Geschäftsleuten ihr Essen von der heimischen Küche ins Büro liefern. Von solchen Quoten können westliche Zustelldienste nur träumen.

Andreas Altmanns Bericht ist Warnung und Verlockung zugleich. Denn so wenig wie der unvorbereitete Reisende Indien genießen wird, so viele lohnende Rätsel gibt das Land demjenigen auf, der es mit offenen Augen und Herzen bereist. "Notbremse nicht zu früh ziehen!" könnte dafür eine gute Vorbereitung sein.

Literaturangaben:
ALTMANN, ANDREAS: Notbremse nicht zu früh ziehen! Mit dem Zug durch Indien. Rowohlt, Reinbek 2003. 188 S., €7,90.

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Stefanie Hardick arbeitet als freie Journalistin in München und Berlin für dieses Literatur-Magazin


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