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Mit eigener Stimme

Zu ihrem 125. Geburtstag: Lesen lernen mit Virginia Woolf

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 22.01.07

 

Am 25. Januar 2007 wäre Virginia Woolf 125 Jahre alt geworden. Doch bereits 1941 wählte sie in Sussex den Freitod.

In ihrem Werk hat sie persönliche Erlebnisse, Erfahrungen und Einsichten, aber auch die von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten verarbeitet. Sie war sich sehr genau bewusst, wie sich ein Leben rückblickend verändern kann und wie Lebensgeschichten immer wieder neu erzählt werden müssen. Ihre Romane und Erzählungen sind aber größtenteils Bestandsaufnahmen der eigenen Seele. Diese große englische Schriftstellerin der modernistischen Bewegung begriff ihre Arbeit als einen Beitrag zur Freisetzung der schöpferischen Kräfte und versuchte, beim Leser ein Bewusstsein gerade für psychische Vorgänge zu erzeugen. So erweiterte sie die realistische Erzählweise um die experimentelle Form der „stream of consciousness“ (Bewusstseinsstrom)-Technik.

In der Überzeugung, jedes Individuum erfahre und verarbeite die objektive Realität auf unterschiedliche Weise und schaffe sich im Bewusstsein eine eigene Wirklichkeit, schildert die Autorin Sinneseindrücke und Gedankenströme der Romanfiguren. Die Wiedergabe von Vorgängen in der äußeren Welt ist dagegen von untergeordneter Bedeutung. Oder genauer gesagt: In der Beschreibung der äußeren (gegenständlichen) Wirklichkeit eines Menschen erfasste sie die innere (spirituelle) Wirklichkeit eines Menschen.

Suizid als Flucht vor dem Wahn

Virginia Woolf war sich ihres labilen Geistes- und Nervenzustandes nur allzu bewusst. Sie litt wohl an einer schizophrenen Psychose, die damals weder genau zu diagnostizieren, geschweige denn zu therapieren war. Sie wusste auch, dass sie sich mit ihrem kreativen Schreiben immer mehr von der literarischen Konvention entfernte. Aber nicht das beunruhigte sie, sondern ob das, was sie schrieb, wirklich Sinn hatte oder unsinnig war. Wegen ihrer Wahnsinnsanfälle hatte sie häufig Zweifel an ihrer eigenen Urteilskraft. Doch ihr Mann Leonard war ihr Arzt, Krankenschwester, Vater und ihr wichtigster literarischer Berater zugleich.

Viele ihrer Werke wären der Welt vorenthalten geblieben, hätte Leonard Virginias Leben nicht so reguliert, wie er es getan hat. Und doch konnte er nicht verhindern, dass sie sich 1941 – in der Luftschlacht um England hatte auch eine deutsche Bombe ihr Haus am Mecklenburgh Square getroffen, Virginia trieb nach Abschluss ihres Romans „Zwischen den Akten“ wieder in einen Wahn hinein – das Leben nahm.

Kommentar fehlt leider

Zum 125. Geburtstag dieser bewundernswerten Frau und begnadeten Schriftstellerin hat der S. Fischer Verlag ein „Lesebuch“ herausgebracht, das Auszüge aus den wichtigsten Romanen, eine Auswahl von Erzählungen und Essays, aber auch ausgesuchte Briefe und Tagebuchaufzeichnungen enthält. Diese Anthologie wendet sich nicht so sehr an den Virginia-Woolf-Spezialisten, an den Kenner ihres Werkes, sondern will den noch nicht so sehr oder gar nicht mit ihr vertrauten Leser mit dem Reichtum und der Komplexität ihres Schaffens bekannt machen, ihm die Augen und Sinne öffnen für die subtile Darstellungskunst dieser einzigartigen Frau.

Umso erstaunlicher ist es, dass bei den von Corinna Fiedler einfühlsam und bedacht ausgewählten Texten auf jede Kommentierung verzichtet wird. Wenigstens der Essay eines Wissenschaftlers oder besser noch eines Schriftstellers hätte Anregung und Unterstützung für die Lektüre geben müssen. So bleibt der Leser ganz sich selbst überlassen und muss sich anderweitig Rat und Auskünfte verschaffen.

Das Dilemma zeigt sich besonders bei den Romanauszügen. Ohne Vorbereitung des Lesers setzen sie ein und brechen ebenso abrupt wieder ab. Worum es hier geht, wer die Personen sind, von denen hier gesprochen wird, in welchen größeren Zusammenhängen die hier ausgewählten Episoden stehen, bleibt dem Leser verschlossen oder erschließt sich ihm nur sporadisch aus den hier abgedruckten Auszügen.

Virginias erstes Buch „Die Fahrt hinaus“ (1915) – hier in zwei voneinander isolierten Episoden vorgestellt, deren Bezug sich nicht herstellt – trägt deutlich autobiographische Züge. Wie sie selbst aus dem Areal ihrer Kindheit, Hyde Park Gate, ins wirkliche Leben hinauszog, so lässt sie im Roman die junge Rachel Vinrace auf einem Frachter nach Südamerika fahren, dort eine Liebesgeschichte erleben und schließlich an einer Tropenkrankheit sterben. Das Buch ist ein sehr direkter Spiegel von Virginias Leben, den Problemen und den Menschen, die sie umgeben hatten und umgaben, ihren Eltern, ihrer Schwester Vanessa, den Freunden des Bloomsbury-Kreises. Rachel Vinrace erinnert in ihrer Sensibilität, in ihrer Bereitschaft, die Wirklichkeit mit allen Sinnen intensiv zu erleben und auf Impressionen emotional zu reagieren, an Virginias eigentümliche Einstellung zur Realität.

In Erinnerung an den verstorbenen Bruder Thoby

„Jacobs Raum“, der dritte Roman, 1922 veröffentlicht, hatte den Bruch mit der konventionellen Erzähltechnik vollzogen. Es ist ein Prosagedicht, in Erinnerung an ihren Bruder Thoby geschrieben, der 16 Jahre zuvor, im Alter von 26 Jahren, gestorben war. Was Virginia über Jacob geschrieben hat, ist größtenteils das Leben, das er in anderen gelebt hat - Jacob selbst redet selten. Das Leben wird nicht in der geordneten Form beschrieben, sondern durch eine Menge scheinbar desorganisierter und zusammenhangsloser Eindrücke in Szene gesetzt – ganz gleich, ob wichtig oder unwichtig. Virginia hat dieses Leben in unzähligen Facetten zerlegt und es – gegen die Gesetze eines kontinuierlichen Erzählstroms – in Szenen, Eindrücken, Bildfetzen mitgeteilt: das Leben auf der Netzhaut des Helden gespiegelt.

So handelt der Roman nicht eigentlich von Dingen und Ereignissen; sein Thema ist das Fließen der Wahrnehmungen, Gedanken und Außenweltbilder. Und das vermag diesmal der gewählte Romanausschnitt durchaus überzeugend vorzuführen. Das Ende des Buches – ein Roman über die Unfassbarkeit, die Flüchtigkeit des Lebens – ist konsequent: Jacobs Zimmer ist leer – ob er nur verreist ist, ob er tot ist: wer weiß es schon? Wer kann es schon wissen?

1925 erschien „Mrs. Dalloway“. Das Buch enthält zwei parallel verlaufende Geschichten, die durch dünne Zufallsbande miteinander verknüpft sind: sie spielen an einem Tag im Leben der mondänen 52jährigen Clarissa Dalloway, der auf einer Party in ihrem respektablen Haus in Westminster seinen Höhepunkt erreicht. Aber davon und dass es zugleich der letzte Tag im kläglichen Leben von Septimus Warren Smith ist, der sich aus dem Fenster stürzt und stirbt, erfährt der Leser nichts. Handlung ist uninteressant, verflüchtigt sich zu einem belanglosen Gewebe.

Der Roman schildert Gedanken- und Gefühlsprozesse: ein Verfahren, das an die Technik der Malerei erinnert, die Wucht einer Empfindung mit einem Male mitzuteilen, indem man sich beim Schreiben nicht mehr an der zeitlichen Abfolge einzelner Handlungssegmente orientiert. Wie kann man die Flüchtigkeit des Augenblicks einfangen?

In dem Besuch des aus Indien zurückgekehrten Peter Walsh bei seiner einstigen Geliebten Clarissa, der hier den Romanauszug bildet, wird die Gegenwart durchwoben von Erinnerungen, die hier in Sekunden aufblitzen, nur einen Satz , ein Satzfragment lang oder sich hinziehen, ausschweifend, langatmig, sich verlieren. Der Leser bekommt hier zwar einen Eindruck von Virginias erzähltechnischem Prinzip der gleitenden Übergänge, denn auch die Abendgesellschaft Clarissas wird in dem Textbeispiel vorwiegend aus seiner kritischen Perspektive gesehen. Doch es wird kaum eine Vorstellung von der ewigen Virginia-Woolf-Frage gegeben, über die hier im Roman ausgiebig nachgesonnen wird: Was ist Leben? Was ist Liebe?

Die Autorin scheint zu sagen, dass das Leben fast so viele Gesichter hat, wie es Menschen gibt. Es ist zum großen Teil die Vorstellung, die man sich davon macht: „Den besseren Teil des Lebens denkt man sich aus“. Und die Liebe ist eine unerklärliche Erfahrung, die man nur mit den vorsichtigsten Worten beschreiben kann.

Eltern als Vorbilder für Romanfiguren

Von allen Büchern Virginias ist „Die Fahrt zum Leuchtturm“ (1927) am beliebtesten. Auch hier hat die eigene Familie den Stoff dazu geliefert. In dem Ehepaar Mr. und Mrs. Ramsay porträtiert sie ihre Eltern: er klug, aber reizbar, ungerecht, tyrannisch, ein viktorianischer Patriarch – sie gütig bis zur Selbstaufgabe, die große Familie ständig harmonisierend und jeden und alles integrierend. Der hier gewählte Ausschnitt – das Abendessen bei den Ramsays, zu dem sich auch ihr Freundeskreis versammelt hat, bei der Mrs. Ramsay die Anordnungen trifft und zugleich in inneren Monologen ihren eigenen An- und Absichten nachgeht – vermag das sehr schön zu belegen.

Es ist eine einzigartige literarische Biographie, denn welcher Autor hätte so liebevoll und doch so unbarmherzig und aufrichtig das Schwarz und Weiß bei seinen Eltern dargestellt?

Der Roman ist dreigeteilt. Die Ramsay-Familie macht Urlaub am Meer. Die Klammer des Buches ist die missglückte Fahrt zum Leuchtturm im ersten Teil, die im dritten Teil doch noch stattfindet. Was es mit dem Leuchtturm auf sich hat, wie das Bild von Mrs. Ramsay, über das die Malerin Lily Briscoe während des Abendessens nachgedacht hatte, 10 Jahre später doch noch vollendet wird, weil Lily inzwischen nicht nur zeitliche, sondern auch geistig-seelische Distanz zu der inzwischen Verstorbenen gewonnen hat, erschließt sich dem Leser in der Szene des gemeinsamen Abendessens nicht.

Verwirrung der Geschlechter mit „Orlando“

Der Roman „Orlando“, 1928 erschienen, ist die Biographie von Vita Sackville-West, einer erfolgreichen Dichterin und Romanschriftstellerin. Grundverschiedene Elemente in ihr sind zu einem Phantasiegebilde verwoben, das zwanzig Jahre aus Vitas Leben mit ihren homo- und heterosexuellen Affären nachzeichnet, von ihrem 16. bis zu ihrem 36. Lebensjahr. Und zwar so, als wäre dieses Leben in vier Jahrhunderten, zwischen1586 und 1928, gelebt worden: „…ein bisschen Phantasie, mit Tatsachen vermengt, kann dazu dienen, eine Persönlichkeit sehr treffend zu schildern“, hatte Virginia 1927 geschrieben. Orlando, zu Beginn der Geschichte ein Junge, verwandelt sich mittendrin auf magische Weise in eine Frau.

Virginias Sinn für Spott, Spaß und Witz zieht sich durch das ganze Buch, das einem literarischen Vexierspiel gleicht.

In „Die Jahre“ (1937) kehrte Virginia über weite Strecken wieder zu der unkomplizierten Erzählweise nach der altbewährten Tradition englischer Romane zurück, deren sie sich seit ihrem zweiten Roman „Tag und Nacht“ (1919) nicht mehr bedient hatte. Der Roman berichtet von Ereignissen im Leben einiger Mitglieder der Londoner Offiziersfamilie Pargiter von 1888 bis 1918. Auf dem alten Familienbesitz Abercorn beginnt diese breit gefächerte Lebensgeschichte und endet in Bloomsbury, wo Virginia die Familienmitglieder, die noch leben, auf einer Party zusammenbringt.

Natürlich wob sie Erinnerungen in die Geschichte ein, hielt die Zeit an, sprang zwischen Bewusstem und Unbewusstem und stellte ihre Frage nach dem Wesen des Daseins. Der hier gewählte Auszug – Sally, die Tochter des Hauses, lauscht in ihrem Schlafzimmer dem Stimmengewirr und dem Lärm der Party im Garten; nacheinander suchen sie die Mutter und die ältere Schwester Molly auf – kann nur eine Ahnung von dem gesellschaftlichen Rollenverhalten der Pargiters vermitteln.

Erzählungen als „ungeschriebene Romane der Zukunft“

„Ein ungeschriebener Roman“ gab Virginia 1920 die Idee ein, dass die „kurzen Sachen“, die Skizzen und Erzählungen, die sie zum Zeitvertreib, sozusagen als Belohnung für ihre anstrengenden Schreibexerzitien verfasst hatte, einander „an den Händen fassen und vereint zusammen tanzen“ könnten. Sie sollte sich künftig immer der Erregung erinnern, als sie sah, wie diese „kurzen Sachen“ sich zu ganzen Romanen weiterentwickeln konnten. Die Erzählungen bildeten die „ungeschriebenen Romane der Zukunft“, lässt uns die Virginia-Woolf-Biographin Hermione Lee wissen, und sie machen einen weiteren Schwerpunkt des „Lesebuches“ aus.

Bereits die experimentelle Skizze „Das Mal an der Wand“, 1917 die erste Publikation der vom Ehepaar Woolf begründeten Hogarth Press, die zwischen 1910 und 1930 schwierige und provokante neue Werke herausbrachte und Wegbereiterin der Moderne wurde, bezeichnete eine neue Richtung, den Beginn einer neuen Art des Schreibens, fragend, häuslich, auf einen Gesprächsstoff gestimmt.

Dem folgt der dunstige Impressionismus von „Kew Gardens“ (1919) mit seinen farbigen Tupfern, den entkörperlichten „ortlosen Stimmen“, einer Stimmung von verhaltener und durchmessener Zeit und dem „exzentrischen“ alten Mann, der Selbstgespräche über seine Begegnungen mit den Geistern der Toten führt. „Ein verwunschenes Haus“ verwandelt das einsame Woolf-Domizil Asheham in Sussex in ein gespenstisches Spiel der Phantasie.

Virginia beschwört ein geisterhaftes Paar, das dieses Haus wieder besucht – nur im Halbschlaf wahrgenommen von dem wirklich dort lebenden Paar. Die Geister gehen von Zimmer zu Zimmer, sie halten Ausschau nach ihrer Vergangenheit, suchen ihren „vergrabenen Schatz“, der im „Puls des Hauses“ zu liegen scheint.

Das erwachende „Ich“ der Erzählung begreift, dass der vergrabene Schatz „das Licht im Herzen“ ist. Dagegen ist „Die Witwe und der Papagei“ eine komische, Flaubert verpflichtete Erzählung, die von der Ruine eines abgebrannten Hauses in dem Dorf Rodmell in Sussex, in dem die Woolfs lebten, inspiriert wurde. Eine alte Dame aus Yorkshire, die gekommen ist, um in Rodmell ein Erbe anzutreten, wird vor dem Tod in der Ouse durch einen treuen und klugen Papagei gerettet, der ihr außerdem, nachdem ihr Haus in Flammen aufgegangen ist, die Stelle bezeichnet, wo der geerbte Schatz versteckt ist. Die Geschichte endet damit, dass in der Ruine des Hauses der Papagei umgeht und dass manche Leute „eine alte Frau in einer weißen Schürze dort haben sitzen sehen“.

Bücher lesen uns: Eine „Schule des Charakters“

Lesen war für Virginia wie Schreiben ein ebenso großes Vergnügen ihres Lebens und die Arbeit ihres Lebens. Wenn sie in ihren Essays über das Lesen schreibt, dann steht es immer in Beziehung mit dem Spazierengehen, Reisen oder Träumen, mit dem Verlangen, dem Erinnern, dem Kranksein. „Über das Kranksein“ (1926) gerät zu einer Beschreibung des Lesens während der Krankheit – wie das Kranksein uns „Intensität“ oder „Unverständlichkeit“ oder „Unbedachtheit“ unserer Lektüre wünschen lässt. Bücher, so argumentiert Virginia, sind eine Schule des Charakters, weil sie sich wie Menschen verändern – während wir sie lesen, und uns beim Lesen verändern. Bücher lesen uns.

Oft sehen wir bei Virginia eine weibliche Gestalt von ihrer Lektüre aufblicken und ihren Gedanken nachhängen, so auch in dem Essay „Lesen“. Während die Leserin hier mit ihrem Buch in der Bibliothek eines elisabethanischen Hauses sitzt, gehen viktorianische Gestalten von Damen und Herren im Haus ein und aus, der Gärtner mäht den Rasen, und die Eskallonienhecke duftet.

Der Autor, den sie liest, scheint „Heerscharen“ anderer englischer Autoren hinter sich zu haben, die bis zu Shakespeare und Chaucer und noch weiter zurück reichen. Durch „eine große Zeitentiefe“ imaginiert die Leserin einen Zug von englischen Stimmen aus der elisabethanischen Vergangenheit (eine Vorwegnahme der Bilderbögen englischer Geschichte in „Orlando“ und „Zwischen den Akten“). Wenn allein schon die Hand über den Rücken der Bücher streicht, genüge das, um „die Frucht unzähliger Leben“ zu beschwören.

Der Essay treibt der Frage zu, ob man denn „seinen Autor“ wirklich „kennen“ würde, weil sich Autoren doch ständig verändern, während sie gelesen werden. Und wissen die Autoren denn selbst, was sie tun? „Vielleicht wissen große Autoren es nie“, und eben darum können sie von jeder neuen Generation neu gelesen werden, weil sie die Dinge offenlassen.

Wirklichkeit als Spiegel des Bewusstseins

Der Assoziations- und Phantasiereichtum macht die große Bedeutung der Essays Virginias aus, die den nächsten Komplex des „Lesebuches“ bilden. Man mag bedauern, dass ihr Vortrag über „Die Person im modernen Roman“, den sie 1924 in Cambridge gehalten hat, nicht mit aufgenommen wurde. Er enthält ihr schriftstellerisches Credo: Man solle nicht über Romanfiguren reden, sondern in sie dringen, sich minuziös in deren Bewusstsein graben und schildern, was da passiert.

Wirklichkeit gespiegelt im Bewusstsein der Menschen, Dokumentation des Alltags, Sammelsurium von Assoziationen, der tausend trivialen Dinge, die einen Tag, ein Menschenleben ausmachen. Weg also von der auktorialen Erzählperspektive, der Überheblichkeit des alten Romanciers, der die Menschen wie Marionetten beherrscht. Der moderne Romancier erfasst den Menschen Schritt für Schritt und erkennt dahinter ein Stück Wirklichkeit.

In dem hier wiedergegebenen Vortrag „Wie sollte man ein Buch lesen“ von 1926 spricht Virginia davon, „dem Autor auf die Schliche zu kommen“, zu sehen, wie er „Dinge absichtlich auslässt“ oder „bestimmte Wörter verwendet“. Sie rät dem Leser, zum „Komplizen“ des Autors zu werden. Ihr eigenes Werk ist ganz durchdrungen von ihrer Lektüre, die aber nicht in Form von kunstvoll zur Schau gestellten referentiellen Schichten auftaucht, sondern in der Atmosphäre oder der Struktur der Romane, als Persiflage oder Um-Schreibung oder historische Nachkonstruktion, in bedeutsamen, konkreten Anspielungen oder an kleinen, gehorteten Details.

In ihren Essays wird die Unterscheidung zwischen Verweis, Nachahmung, Huldigung und Diebstahl unterhöhlt. Virginia entwickelt ihre Themen aus einem ganzen Geflecht von Zitat und Paraphrase. Ihr Geist hallt in den Essays in Form von lauter Echos wider.

Manchmal müssten wir von einer Art Buch zu einer anderen Art wechseln, „um zu schlendern und zu streifen, das Urteil auszusetzen und einfach durch die Sträßchen und Gassen der Belletristik zu bummeln“. Das nimmt den Essay „Stadtbummel“ (1927) vorweg, in dem Virginia ihre Wanderungen und Beobachtungen in Londoner Straßen als eine Form von Lektüre beschreibt. Die Spaziergängerin wird „ein riesiges Auge“, das „das Ich“ abwirft, nicht mehr gebunden „an einen einzigen Geist“ und „die geraden Linien der Persönlichkeit“, sondern fähig, in „Körper und Geist anderer“ zu schlüpfen.

Das Tagebuch eine literarische Beruhigungsspritze

Der energischste Schwall ihrer Kräfte floss in das Tagebuch, das sie in unregelmäßigen Abständen führte. Zum Teil fungierte es als Sedativum, wurde geschrieben, um einen „ruhelosen Zustand“ zu beruhigen, ein unbehagliches Vibrieren des Geistes nach zu vielen Besuchern zu besänftigen oder die Tagbuchschreiberin selbst durch „peinlich genaues Beobachten“ zu objektivieren. Je mehr sie sich an das Tagebuchschreiben gewöhnte, desto eifriger stürzte sie sich auf Charakterskizzen von Besuchern oder Familienangehörigen.

Sie verarbeitete hier häufig ihre Anfälle von Ärger oder Angst. Sie erprobte in ihnen aber auch Methoden, die Persönlichkeit eines Menschen einzufangen, gewährte aber ebenso beredte Einblicke in ihr Privatleben. Sie überwachte in ihrem Tagebuch ständig die Einhaltung ihres täglichen Arbeitsplans, sie gratulierte oder schalt sich und nannte das ihren „Arbeitsbericht“.

Virginia hat es selbst vorgelebt: Um sich in der Gesellschaft als Frau durchzusetzen, braucht man Geld, und das lässt sich mit Schreiben verdienen. Denn das Schreiben hatte für sie auch eine ökonomische Seite – Schreiben als Handwerk, als Mittel zum Zweck: zur Emanzipation. Sie fühlte sich durch ihre eigene Erfahrung legitimiert, andere Frauen anzutreiben, ihr eigenes Geld zu verdienen, sich eigene Zeit zu verschaffen, ein eigenes Zimmer, eigene Arbeit, ein eigenes Leben: eben Selbstbestätigung zu finden.

Herzlich Willkommen: Zu Gast im Geist von Virginia Woolf

Wie Virginia einmal scherzhaft an John Lehmann, einen Mitarbeiter der Hogarth Press, schrieb: „Sie sind hiermit eingeladen, der Gast des Geistes von Virginia Woolf zu sein“, so lädt dieses „Lesebuch“, dieses Lebensbuch der VirginiaWoolf ein, sie neu zu entdecken, als unsere Zeitgenossin wie als historische Figur, als Erzählerin und Sozialkritikerin zugleich, als neurotische, abgehobene Ästhetin oder schöpferische Phantastin, als Feministin oder Chronistin weiblicher Geschichte, als Kulturanalytikerin.

Es lädt ein zu Entdeckungsfahrten in die innere wie äußere Erfahrungswirklichkeit, ob es sich nun um den Bewusstseinsroman, den Zeitroman, den Bildungsroman oder seine Umkehrung, in jedem Fall aber um den Desillusionierungsroman handeln mag. Virginia Woolf ruft heute noch erbitterte Diskussionen über Wahnsinn, über die Moderne oder die Ehe hervor, und jede Wiederaneignung ihres Werkes bedeutet zugleich immer eine Umschreibung. Denn umgeschrieben wird VirginiaWoolfs Geschichte von jeder Generation.

Literaturangaben:
WOOLF, VIRGINIA: Das Lesebuch. Ausgewählt von Corinna Fiedler. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 503 S. 12 €.

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Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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