Werbung

Werbung

Werbung

Alice Millers Plädoyer für gewaltfreie Erziehung und Mitgefühl

Es gehe ihr keineswegs „um Mitgefühl mit erwachsenen Sadisten“, betont Miller

© Die Berliner Literaturkritik, 16.01.08

 

Von Ira Schaible

FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Vernachlässigte Kinder, gewalttätige Jugendliche und Terrorismus: Für die Kindheitsforscherin Alice Miller („Das Drama des begabten Kindes“) haben diese Schrecken die gleiche Wurzel. Die Täter wurden als Kinder gequält und gedemütigt; sie mussten ihre Gefühle wie Wut, Trauer und Angst unterdrücken. Ein „geschlagenes, verletztes Kind (lernt) zu schlagen und zu verletzen“ – diese Einsicht und die Folgen führt die Psychologin in ihrem neuen Buch „Dein gerettetes Leben“ anhand zahlreicher Beispiele aus.

Das Buch der polnischstämmigen Schweizerin ist vor allem ein eindringliches Plädoyer für eine liebevolle, mitfühlende und gewaltfreie Erziehung. Zugleich appelliert Miller an Erwachsene, sich dem Schmerz zu stellen, den sie als Kind erlitten haben und ihre eigenen Eltern nicht blind zu idealisieren. „Es ist diese kindliche Angst vor den allmächtigen Eltern, die Erwachsene dazu treibt, ihre eigenen Kinder zu misshandeln bzw. mit schweren Krankheiten zu leben und die einst erfahrenen Grausamkeiten zu bagatellisieren.“

Depressionen, schwere Erkrankungen, Selbstmord oder Drogensucht könnten Folgen des „Selbstverrats“ sein. Als Beispiele nennt sie Prominente von Marilyn Monroe über Virginia Woolf bis zu Elvis Presley. Völlig neue Erkenntnisse Millers wird der Leser in ihrem 13. Buch aber nicht finden. Ein großer Teil der in sechs Kapitel unterteilten Texte und Interviews war schon auf der Homepage der 84-Jährigen (www.alice-miller.com) oder in verschiedenen Zeitungen zu lesen.

„Die Grausamkeit eines Menschen wird ihm (…) von seinen Eltern und Erziehern (zugeteilt), sie bildet sich im Gehirn eines Kindes aus, das auf grausame Weise behandelt wird“, lautet eine der zentralen Thesen des Buches. Die Folge sieht Miller so: „In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat.“

Als Beispiele nennt sie unter anderem Josef Stalin und Mao, bleibt dabei jedoch allgemein. Ausführlicher erläutert sie ihre Auffassung über die Wirkung der Kindheit bei Adolf Hitler. Danach haben die „unbeachteten, verleugneten Verletzungen des Kindes (zur Zeit der Ausreifung seines Gehirns) später unter spezifischen Voraussetzungen Ursache eines Grauens werden können, das Millionen von Menschen betrifft“.

Es gehe ihr keineswegs „um Mitgefühl mit erwachsenen Sadisten“, betont Miller, sondern, „um Verständnis für das Leiden des Kindes, das sie waren“. Und mit Blick auf drohende Terroranschläge warnt sie: „Wenn wir nicht lernen, diese Zusammenhänge zu durchschauen und die Eltern an der Ausübung ihrer perversen Erziehungspraktiken zu hindern, wird die künftige Menschheit an ihrer verblüffenden Ignoranz zugrunde gehen.“

Das Mitgefühl für die Leiden von Kindern werde in der Gesellschaft stark vernachlässigt, selbst von Gerichtsgutachtern und Therapeuten. Mit diesen geht die langjährige Psycho- und Lehranalytikerin hart ins Gericht, gibt aber zugleich Tipps, wie sich ein guter finden lässt. Zentral ist dabei für sie die Frage nach dem Mitgefühl des Therapeuten für sein eigenes Leid als Kind und für das des Klienten. Miller hatte in den 1980er Jahren ihre Praxis aufgegeben und war aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgetreten, um sich von der Psychoanalyse zu distanzieren, die „in der alten Tradition das Kind beschuldigt und die Eltern schont“, wie auf ihrer Webseite steht.

Ihre „Wege zur Befreiung“, wie der Untertitel des Buches heißt, beschreibt sie so: „Zur Wahrheit, das heißt zur Konfrontation mit unserer individuellen und kollektiven Geschichte, gibt es keine Alternative. Nur deren Kenntnis kann uns vor der perfekten Selbstzerstörung bewahren.“

Literaturangaben:
MILLER, ALICE: Dein gerettetes Leben. Wege zur Befreiung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 319 S., 19,90 €.

Homepage der Autorin

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: