Von einer spannenden Handlung kann hier wirklich nicht die Rede sein. Die junge New Yorker Journalistin Kathryn D’Angelo ist zu der 79jährigen Malerin und Malergattin Hope Chafetz, geborene Ouderkirks, ins ländliche Vermont gekommen, um sie einen Tag lang über ihr Leben auszufragen. Aber eigentlich gilt das Interview gar nicht ihrem künstlerischen Werk, sondern der Zeitzeugin Hope, den Künstlern, mit denen sie zusammen gelebt hat, denen sie sich verbunden fühlte. Sie allein ist übrig geblieben aus jener New Yorker Malerszene – ein Stück lebende Kunstgeschichte. Und so entsteht ein ganzes Panorama der Kunstrichtungen der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft in höchst eigenwilliger Deutung.
In der Tradition der Großen
Der 1932 geborene klassische Erzähler John Updike ist in der Nachfolge des psychologischen Realismus eines Hemingway oder Faulkner, in der Tradition von Sinclair Lewis (und dessen typologischen amerikanischen Geschäftsmannes Babbitt, der in dem unheroischen Helden Harry Angstrom im Rabbit-Zyklus Updikes einen Nachfolger wie Gegenspieler gefunden hat) ein Meister des Psychogramms. So auch in diesem Roman, der seinen Titel „Sucht mein Angesicht“ aus Psalm 27 bezieht. Im Verlauf des einen Interview-Tages bewegen sich die Fragerin und die Befragte in unterschiedlichen Rollenverteilungen aufeinander zu und wieder voneinander weg. „Es schiebt Hope einen Kloß in den Hals, diesen nervös aggressiven ungebetenen Gast hier zu haben… Es ist ein neues Jahrhundert – noch schrecklicher: ein neues Jahrtausend. Diese Jahrtausendwende ist für Hope eine große blinde Tür, die zugefallen ist, und dahinter ist ihr Leben weggesperrt, wie ein Kind, das in einem vergessenen Kühlschrank erstickt“.
Zunächst sieht Hope in der neugierigen Journalistin, irritiert auch durch dieses Tonbandgerät, das da ständig mitläuft („leidenschaftslos wie eine Überwachungskamera“), einen Eindringling in ihre häusliche Einsamkeit, dem sie nur widerwillig Auskunft gibt. Wie von ungefähr dringen die Fragen Kathryns, die nur das äußere Stichwort geben, auf sie ein, sie ist ganz in der eigenen Welt der Erinnerungen versunken, die wie ein Bewusstseinsstrom aus ihr hervorbrechen und sich verselbständigen. Kathryn gegenüber gibt sie jedoch nur „Erinnerungsfetzen“ preis. Hope will Kathryn „zappeln lassen, sie dazu verleiten, vorschnell nach dem Köder ‚lieben’ zu schnappen, aber Kathryn ignoriert die Provokation, und Hope muss weiterreden, erläutern, klarstellen, was immer schon besser ein Geheimnis geblieben wäre“. Kathryn dagegen zieht alle Register journalistischen Könnens, sie zollt „einschmeichelnd ins Ohr ihrer Beute“ Bewunderung für Hope, deren großen Erfahrungsschatz und künstlerischen Erfolg. Wie Kathryn dann, immer unverblümter, Hope nach biographischen Details aus dem Zusammenleben mit ihren Männern ausfragt, grenzt das schon an Voyeurismus. Zudem macht sie kein Hehl aus ihren Sympathien für den einen und Antipathien für den anderen Mann, sehr zum Ärger Hopes, die das als unerlaubte Einmischung in ihre ureigenen Gefühle ansieht. Andererseits rächt sich Hope, indem sie die Jüngere mit freimütigen Aussagen über ihre Bettgeschichten und sexuellen Vorlieben verunsichert. „Hope war lebendig gewesen auf eine unbefangene, ungenierte, fruchtbare Weise, die dieser jungen Frau verwehrt ist…“ So herrscht Kriegsstimmung zwischen beiden, die Hope durch ihre inneren Monologe über das „pedantisch angelesene Wissen“ ihrer Besucherin, auch über deren ungünstiges Aussehen, deren Kleidung und Verhaltensweisen noch weiter vertieft.
Erst am späten Nachmittag gelingt es den beiden, sich emphatisch privat aufeinander einzulassen. „Sie gewöhnen sich beide zu sehr an den Umgang miteinander. Sie sind wie Boxer, deren Reflexe in den letzten Runden nachlassen“. Hope wird zur weisen Mutter, die ihrer „Tochter“ mit Ratschlägen Lebenshilfe leistet und ihr schließlich auch noch ein Care-Paket für die lange nächtliche Rückfahrt nach New York zurechtmacht. Kathryn wird nacheinander als „ungebetener Gast“, Störenfried“, „Inquisitorin“, „Vernehmerin“, „hartnäckige Klette“, „lästige junge Peron“, „verlorenes Kind“, schließlich als „Tochter“ bezeichnet. Und das Fazit dieser Begegnung? Hope: „Es ist ein Geschenk für mich gewesen, so viel erzählen zu dürfen. Mein armes kleines Leben in seiner Gesamtheit zu betrachten“. Kathryn: „Es ist ganz und gar ungewöhnlich für jemanden meiner Generation, mit einem Menschen zu sprechen, der so zufrieden mit seinem Leben ist“.
Diese Zweierbeziehung der beiden Frauen erweist sich als Faszinosum allererster Güte. Obwohl ihr eigentlich ein in ruhiger Sachlichkeit geführtes Fachgespräch über die Entwicklungsphasen amerikanischer Nachkriegskunst zugrunde liegt, weitet es sich zu einer tiefenpsychologischen Charakterstudie aus. Aber das ist wohl so nicht ganz richtig. Denn es sind eigentlich keine psychologischen Porträts. Das Entscheidende findet sich in den Zwischenräumen, in den Sprechpausen, in den inneren Monologen; nicht so sehr in den Charakteristiken der Figuren, sondern in den zwischen ihnen bestehenden, ständig wechselnden Beziehungen; nicht so sehr in dem, was sie mitzuteilen haben, sondern in den Spannungen zwischen diesen Aussagen.
Versteckte Symbolik
Lebenslang hat sich Updike, der selbst in den 50er Jahren an der Ruskin School of Drawing and Fine Art in Oxford studierte, mit Malerei beschäftigt. Das schlägt sich in seiner literarischen Darstellungsweise ebenso nieder wie in den Inhalten seiner Romane, Geschichten und Essays. Es ist immer wieder festgestellt worden, dass Jan Vermeers Mal- und Darstellungsweise auf das literarische Werk Updikes übertragbar ist und dazu beiträgt, die unter der Oberfläche versteckten symbolischen Aussagen seiner Texte zu entschlüsseln. Im neuen Roman wird im Frage- und Antwort-Spiel der beiden Frauen die Entwicklung der amerikanischen Kunstlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nachvollzogen. Sie beruht nach Updikes eigenen Angaben im Vorwort auf zwei Standardwerken der Kunstgeschichte: 1. Steven Naifeh, Gregory White Smith: Jackson Pollock: An American Saga. Clarkson N. Potter, 1989; 2. Clifford Ross (ed.): Abstract Expressionism: Creators and Critics. Harry N. Abrams, 1990.
Recht deutlich sind die Anspielungen auf Jackson Pollock, den „Action-painter“ par excellence, in der Figur Zack McCoy, Hopes erstem Mann, auszumachen. Pollock war völlig in Anspruch genommen von der Rolle der Kunst, wie Kandinsky sie sah, als eine Heraufbeschwörung von „Grundrhythmen“ des Universums und ihren unbestimmten, aber vorstellbaren Beziehungen zu Geisteszuständen. Mit dem atmosphärischen Raum seiner „All-over“-Bilder, den verschwenderischen Energiewirbeln und dem scheinbar freien Lauf seiner optischen Felder gelang ihm eine der bemerkenswertesten Innovationen. Verfolgt man dieses biographische Puzzlespiel weiter, dann wäre Hope als fiktionale Repräsentation von Lee Krasner zu verstehen. In Guy Holloway, dem zweiten Ehemann Hopes, dem „super-erfolgreichen Wunderknaben der Pop-Art“, sind Bezüge zu Andy Warhol zu erkennen. Er war der beste Marketing-Experte der Kultur und spielte seine Rolle in den Jahren von 1962 (seinem ersten öffentlichen Auftritt) bis 1968, als sein Talent ziemlich ausgebrannt war, in brillanter Weise. Was er der Massenkultur abgewann, war die Wiederholung. Er liebte die eigentümlich gesichtslose Gleichheit der Massenprodukte: eine unendliche Reihe von identischen Gegenständen – Suppendosen, Cocaflaschen, Dollarnoten, Mona Lisas oder immer wieder der gleiche Kopf von Marilyn Monroe als Siebdruck. Einige amerikanische Rezensenten wollten die Guy-Figur als Mischung aus Warhol und Jasper Johns sehen, der Stereotypen entblößte und das Funktionieren von Bildern und Farben aufdeckte. Andere Kritiker erkannten eher eine Zusammensetzung aus Roy Lichtenstein, der amerikanische Comicstrips als künstlerische Quelle nutzte, Claes Oldenburg, für den es keinen Bereich menschlicher Begierden gab, den die Sinnbilder seiner Kunst nicht erreichen konnten, und Andy Warhol. Oder sogar aus Jasper Johns, Roy Lichtenstein, Andy Warhol und Robert Rauschenberg, in dessen Arbeiten sich Klischee und Selbstparodie mit blendenden Einfällen und Momenten poetischer Hellsichtigkeit vereinen.
Andy Warhol, Willem De Kooning und Barnett Newman
Auch andere Künstlerfiguren des Romans haben ein reales Abbild, so ist in Onno de Genoog Willem De Kooning zu erkennen, dessen „Women“ eine Tradition des europäischen Expressionismus in Amerika zum Abschluß brachten: „...diese verrückten wilden Farbgestöber, in denen man mit knapper Not sitzende Frauen erkannte, mit übereinander geschlagenen nackten Beinen und hohen Absätzen…“. Clyfford Still , Mark Rothko und Barnett Newman sind vertreten, die „Theologen“ des Abstrakten Expressionismus im Gegensatz zu Pollock, der nichts Metaphysisches in seine Bilder hineininterpretiert haben wollte, und viele andere.
Manche Rezensenten haben in diesem Roman den didaktischen Zeigefinger als zu deutlich erhoben wahrgenommen. Dieser Vorwurf wäre vielleicht berechtigt, wenn die kunstgeschichtlichen Auslassungen nicht in den lebendigen Disput der beiden Frauen eingebettet worden wären. Hier eröffnet sich aus neuer, femininer Perspektive die fiktionale Verarbeitung der Kunst-Ikonen Pollock, Warhol und anderer künstlerisch aktiver Zeitgenossen. Erst als auch ihr dritter Ehemann Jerry, ein reicher Sammler, stirbt, kann sich Hope wieder ihrer eigenen Malerei zuwenden. Vorher war sie die Geliebte, die Muse ihrer malenden Männer, dann – für Guy – nur noch „ein Geräusch in seinen Ohren, ein Hindernis in seinem Blickfeld“. Guy fand die Gouachen Hopes zu perfekt, er wischte mit der Handkante darüber – „das Mechanische war vom Menschlichen berührt worden, das gab der Idee der Wiederholung, der Wiederholbarkeit eines Prozesses, dies Eindringliche“. Vorher hatte Hope „auf verschiedene Weisen“ gemalt, „die die Männer, laut ihrer Bekundungen, als irritierend empfanden, und jetzt, da es fast zu spät ist, Malen auf eine Weise, die mir selbst als wahrhaftig erscheint, aber vielleicht eine Flucht ist vor mir selbst, vor der Farbigkeit der Welt…“. Vorher hatte Hope ihre Männer imitiert, jetzt mischt sie im Sinne Bernies (damit ist Mark Rothko gemeint) „unendlich viele Farben zu Grauschattierungen, um zu hauchfeinen Andeutungen von Lila, von Beige, sogar von Pink zu kommen und die Schwingung zwischen den Streifen auszulösen, die Aktivität, die atomische Aktivität, die in allem ist,…dieser Aufruhr, wie Zacks Spritzer und Strudel…oder wie Guys Tröpfeleien…“.
Nicht das Detektivspiel, welche fiktive Charaktere realhistorischen Personen zuzuordnen sind, steht im Zentrum des Romans, sondern welche Blickwinkel Updike – vermittelt durch seine beiden Protagonistinnen Hope und Kathryn, die wiederum unterschiedlichen Generationen angehören und ihre Auffassungen keineswegs teilen – auf die amerikanische Kunstlandschaft einbringt. Der Schriftsteller als Kunstkritiker: Welche vielfältigen, international richtungweisenden Impulse sind von der amerikanischen Kunst ausgegangen? Welche Führungsrolle haben die Maler innerhalb der Avantgarde übernommen? Welche künstlerischen Strategien haben sie entwickelt? Zu welch einem zuvor ungekannten wechselseitigen Austausch zwischen den einzelnen Künsten ist es in dieser Periode radikaler Neuerungen gekommen?
Langsame Prozesse und spontane Momentaufnahmen
Updike versteht ebenso wie die „Action-painters“ das Kunstwerk als „action-happening-now“, er hat so spontan wie möglich die sich im Prozess des Schreibens entfaltenden Wahrnehmungen, Gedanken und Assoziationen festgehalten. Er hat häufig nicht nur ganz disparate Einzelheiten in Hopes Erinnerungen aufgenommen, sondern diese auch teilweise so fragmentarisch wiedergegeben, dass der Leser sich mitunter mit einem Aufflackern von halbgeformten Bildern ohne erklärbare Bedeutung begnügen muss. Man könnte bestimmte Bildbeschreibungen von Hope mit Gemälden von Pollock, Warhol oder De Kooning vergleichen. Man könnte auch sagen, dass der „Inhalt“ der Hope-Sätze dem „Inhalt“ der Pinselstriche in einem abstrakt-expressionistischen Gemälde gleiche, wenn man nicht wüßte, dass malerische Gesten eine andere Struktur haben als Sätze.
Der Begriff des Prozessualen zieht sich wie ein Leitmotiv durch die programmatischen Äußerungen der Maler wie durch den Roman. Hier geht es nicht um die Absicht, Kunstwerke hervorzubringen, die schon im Vorfeld sorgfältig geplant und zu Ende gedacht werden. Sondern vielmehr wird versucht, bei der Gestaltung der Texte und Bilder so unvoreingenommen jenen Ideen, Gefühlen und Wahrnehmungen zu folgen, die sich erst während des Malens oder Schreibens einstellen. Man möchte sich gleichsam selbst überraschen, und neben die Überraschung, die unerwartete Entdeckung, tritt auch die Vorstellung, dass das Kunstwerk eine Art Eigenleben entwickelt und dass der Künstler gleichsam in einen Dialog mit dem Werk eintritt und dabei in gewissem Maße die Rolle des eher passiven Reagierenden übernimmt.
Wir haben es bei den fiktiven Künstlergestalten Updikes mit einer collagen-ähnlichen Kombination von Tagebucheintragungen, Gesprächsfragmenten und Zeitungsausschnitten zu tun, die – ausgehend von den jeweils wichtigsten Werken – verschiedene Etappen der Karriere der jeweiligen Künstler verfolgen. Die Rückerinnerungen Hopes sind von einer situationsbedingten Komik geprägt. Nicht nur das Oeuvre selbst, sondern auch die innere Einstellung der Künstler zu ihrem Schaffen, ihre Emotionen und Gedanken werden von Updike wie eine Farce überzeichnet. Parodistisch übertreibt er die extremen Stimmungsschwankungen des Künstlers, der sich meistens entweder in einem Zustand des Hochgefühls befindet oder aber von tiefer Verzweiflung erfasst wird. Ironisiert wird auch die fast rührende Abhängigkeit des Künstlers von Erfolg und Zuspruch oder seine ausgeprägte Neigung zu Selbstzweifeln bzw. seine Tendenz zu radikalen Meinungsäußerungen.
Aber bei aller Parodie, bei aller karikierenden Übersteigerung, werden in diesem Roman durchaus ernstzunehmende Fragen berührt, die nicht nur für die auftretenden Künstlerfiguren, sondern für jeden Künstler und für die Kunst überhaupt relevant sind.
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Literaturangaben:
UPDIKE, JOHN: Sucht mein Angesicht. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005. 316 S., 19,90 €.