„Der alte Mann sitzt auf der Kante des schmalen Betts, die Hände gespreizt auf den Knien, den Kopf gesenkt, und starrt den Fußboden an.“ Austers erster Satz im neuen Roman „Reisen im Skriptorium“ könnte ebenso gut eine Momentaufnahme aus seinem eigenen Schreibzimmer sein. Und scheinbar fiel ihm hier nichts Besseres ein, als ein Bändchen mit der Kurzfassung eines Romans zu füllen und mit einem Brainstorming zum Thema Autorschaft zu umfüttern.
Der größtenteils berichtartige Roman betrachtet alle Details jeder einzelnen Handlung sachlich und genau. Es handelt sich um Mr. Blank, der, wie das weiße Blatt Papier, unbeschrieben, ohne Vorgeschichte ist – zumindest kann er sich an nichts dergleichen erinnern. In einem klinisch weißen, abgedunkelten Zimmer, in welchem die wenigen vorhandenen Gegenstände fein säuberlich beschriftet sind, ist er völlig isoliert.
Das Einzige, was ihm zur Verfügung steht, sind ein Stapel Fotos und ein Stapel beschriebenes Papier, letzterer soll sich später als zwei Manuskripte herausstellen. Im Laufe des Tages treten Besucher ins Zimmer und helfen Mr. Blank zusammen mit den Fotos und fragmentarischen Teilen ihrer Lebensgeschichten auf die Sprünge der Erinnerung. Doch so ganz will sich das Mosaik in seinem Kopf nicht zusammensetzen.
Das bisschen Spannung, welches über gut zwei Drittel des Buches ganz knapp aufrechterhalten wird, entsteht durch den Mehrwert an Information, welcher dem Leser vom Erzähler zugestanden wird. Dieser ist der Beobachter, der Berichterstatter, derjenige, welcher akribisch genau observiert, was die versteckten Kameras und Mikrofone im Raum aufzeichnen. Es stellt sich nicht nur Mr. Blank, sondern auch dem Leser die Frage: Klinikum oder Präsidium? Irrenhaus oder Strafanstalt?
Gefängnis ist der Aufenthalt allemal, denn Mr. Blank wird von Kameras beobachtet, von Ärzten analysiert, von Pillen kontrolliert. Er ist ein Versuchskaninchen – vielleicht kein schreibendes, aber doch ein dichtendes. Denn verärgert über das schlechte Manuskript, welches ihm zu lesen gegeben wurde, spinnt er sich seine eigene Variante der Geschichte zusammen. Ob ihm die verabreichten Pillen dabei nützlich sind, bleibt unklar. Doch fest steht: Es ist ein ungewöhnliches Experiment, den Schreibfluss zu evozieren.
Wann, wo und wie die Muse küsst, ist oft thematisiert in Kunst, Musik und Literatur und doch weitgehend ungeklärt. Oft berichten Kreative, in einem Dämmerzustand, hervorgerufen durch Übermüdung oder Halluzinogene, am besten arbeiten zu können. Ähnlich entwickelt es sich auch bei Blanks Reise im Skriptorium. Doch wohin diese Reise letztendlich führt, entfaltet sich – wie bei Auster üblich – erst auf den letzten Seiten. Die Geschichte, die sich anfangs in Mr. Blanks vier Wänden drehte, bricht auch am Ende nicht daraus aus – die Reise bleibt innerhalb der Schreibstube. Nur die kurzen geistigen Ausflüge, auf die Blank den Leser mitnimmt, sowie ab und an eingestreute Lebensweisheiten helfen über die poetische Lethargie hinweg.
Alles in allem scheint es Auster selbst zu sein, der „mit den Gedanken meist woanders gewesen, in einem Nebelland voller geisterhafter Wesen und zerbrochener Erinnerungen, auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die ihn nicht loslässt“. Diese eine Frage: Wer ist die beobachtende Instanz, wer hat hier die Kontrolle über den Autor? Und es ist wieder einmal ganz simpel und tiefgründig zugleich! Es sind die Geschichten im Kopf des Autors, die ihn nicht ruhen lassen. Das Allmächtige sind die Chimären, welche den Schreiberling beherrschen, die Geschichte diktieren und ihn letztendlich auch in Form seiner Schriften überleben werden.
Wer mit Auster umzugehen weiß und postmoderne Verschachtelungen ohne viel Handlung mag, sollte bis zum Ende des Buches durchhalten. Aber ein Lesevergnügen zum Abschalten ist es nicht.
Und so tut man, „was man zu tun hat, und dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Gute Dinge und schlechte Dinge. So ist das nun mal. Wir mögen darunter zu leiden haben, aber das hat seinen Grund, einen guten Grund, und wer sich darüber beklagt, hat nicht begriffen, was es heißt, am Leben zu sein.“
Von Jacqueline Moschkau
Literaturangaben:
AUSTER, PAUL: Reisen im Skriptorium. Roman. Deutsch von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek 2007. 173 S., 16,90 €.
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