Würde man eine Poetik der Erzählungen Jossel Birsteins schreiben, sie müsste dem Bus-Motiv als Metapher für Leben den zentralen Stellenwert einräumen. „Ein Bus ist ein sehr lebhafter Ort“, schreibt Jossel Birstein, „man muss die Augen offen halten und beobachten, was um einen herum vorgeht.“ Und weil „Jerusalem die Stadt der Stadtteile“ ist, wie es in einer anderen Erzählung heißt, wird viel Bus gefahren. Ein Großteil von Birsteins Kurz- und Kürzestgeschichten findet in Bussen oder an Bushaltestellen statt, entsprechend viel weiß der Autor zu berichten.
Birsteins Bus-Beobachtungen und -Begegnungen fasst er in Worte, leichte Worte ohne viel Aufsehen. Und während der Leser aus Zeitungen weiß, dass die Menschen in Jerusalem nur sehr ungern Bus fahren, aus Angst vor Selbstmordattentaten, beschreibt Birstein die Welt des Busses als zwischenmenschlich aufregenden Ort. Hier trifft er schöne Frauen, schweigsame oder mitteilungsfreudige Männer, alte Bekannte.
Manchmal begibt er sich sogar eigens an eine Bushaltestelle, nur um in der Warteschlange den Menschen zuzuhören oder - besser noch - mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Fünf-Minuten-Geschichten
Alle Geschichten haben den Charme des Authentischen - der Autor schöpft aus seinem eigenen wechselhaften Leben. Als polnischer Jude war Jossel Birstein 1937 nach Australien emigriert, 1950 schließlich wanderte er nach Israel aus. In Israel ging er so unterschiedlichen Berufen wie Schafhirt und Bankangestellter nach, bevor er ausschließlich (häufig auf jiddisch) schrieb.
Dass Birsteins Geschichten fürs Radio entstanden sind, gesendet als „Fünf-Minuten-Geschichten“, macht sich im Schreibstil bemerkbar: Die für das hörende Ohr, nicht das lesende Auge geschriebenen Geschichten sind in einer lebendigen, mündlichen Sprache verfasst.
Birstein ist ein waschechter Geschichtenerzähler. Immer drehen sich die Erzählungen um Menschen und ihr Tun: Es wird geheiratet und gestorben, begegnet und getrennt. Die Leute gehen dabei zeitlosen, wenngleich heutzutage antiquiert wirkenden Berufen wie Schuster, Schneider und Hutmacher nach. Sie leben in einer Welt, in der der komplizierte Alltag in Jerusalem meist nur unterschwellig, subtil einbricht.
Die Beziehungen der Figuren untereinander sind freundschaftlich, nachbarschaftlich oder verwandtschaftlich. Einige sind ganz „normal“, andere kurios. Immer handeln sie nachvollziehbar und machen den Alltag, die Alltagsbeobachtungen interessant, das Leben lebenswert.
Ein gesegnetes öffentliches Nahverkehrsmittel
Birsteins Geschichten sind zutiefst human. Gleich in der ersten, „Blutsverwandtschaft“, treffen ein Jude und eine Araberin zusammen – ihr Vater hatte seinen Vater getötet, nun ist sie zur Versöhnung gekommen. Als „Blutsverwandte“, wie sie sagt, und damit dem Wort eine neue Aufladung gibt. In dieser Erzählung sind bestehende Konflikte sehr deutlich präsent, finden aber eine friedliche Lösung.
Subtil und sehr humorvoll geht es in „Etwas Bewährtes im Lande Israel“ zu. Der Ich-Erzähler trifft – natürlich im Bus - einen Mann mit Holzbein. Es gebe kein zweites Holzbein wie seines, meint er, bestes Material, aus Rußland. Der Ich-Erzähler solle ihm bitte etwas derart Bewährtes in Israel nennen. Das einzige, was diesem nach einigen Überlegungen einfällt, ist „Familie“, doch das läßt der Mann mit dem Holzbein nicht gelten.
Durch Nili, eine weitere der zahlreichen flüchtigen Bekanntschaften aus den Bussen der Stadt, fasst Birstein noch einmal den erzählerischen Reiz des öffentlichen Transportmittels zusammen: „Die ganze Welt ist in Bewegung“, lässt er sie sagen, „wie der Bus.“
Wer Birsteins Erzählungen liest, wird zu zweierlei Dingen angeregt: erstens öfter Vorlesen (denn dafür sind diese Geschichten wahrlich geschrieben) und zweitens öfter Busfahren! Literaturangaben: Mehr zum Thema:
BIRSTEIN, JOSSEL: Unterwegs in den Straßen von Jerusalem. Arche Verlag, Zürich 2002. 144 S., €17,00.