Von Susanna Gilbert
„Die Welt ist nicht rund, und sie ist keine Scheibe. Sie ist einfach da. Es ist nicht einmal eine Welt. Es ist ein großes vertrautes, unbegreifliches Umgebendes. Es schweigt und spricht, es braust und tost. Es wirft Hagel und Regen und Feuer und Sturm um sich. Es trägt und nährt und vernichtet und tötet.“ So wie Sibylle Knauss die Vorstellungen der ersten Menschen auf dieser Erde beschreibt, könnten sie gewesen sein. Überhaupt setzt ihr Roman „Eden“ bei seinen Lesern eine schier unendliche Kette an Fragen, Spekulationen und Mutmaßungen in Gang, wagt sie doch einen literarischen Ausflug zurück in die Ursprünge der Menschwerdung vor Millionen Jahren, von denen fast nichts übrig geblieben ist als einige Knochen und ein paar Fußspuren in der versteinerten vulkanischen Asche von Laetoli in Ostafrika.
„Eden“ ist ein ebenso gewagtes wie gelungenes literarisches Projekt, denn es versucht, die Welt jener Urmenschen vor hunderttausend Generationen mit Sprache zu begreifen, die noch keine Sprache hatten. Der Roman erzählt eine Schöpfungsgeschichte jenseits der biblischen. Zugleich - und dies ist ein reizvoller Kontrast - porträtiert er die wechselvolle Ehe des Paläoanthropologenpaares Louis und Mary Leaky, die in der Erde Tansanias vor allem in den 1960er und 1970er Jahren spektakuläre Entdeckungen machten und somit Darwins These von Afrika als Wiege der Menschheit untermauerten.
„Am Anfang war das Tier“, beginnt ihre Geschichte vom Ursprung der Menschheit. Die andere beginnt mit Liebe: Seit die junge Engländerin Mary einem Vortrag des charismatischen Forschers Louis Leaky gelauscht und bei der anschließenden Dinnerparty neben ihm Platz genommen hatte, war es um sie wie um ihn geschehen. Bedingungslos folgt Mary dem zehn Jahre älteren, verheirateten Mann nach Afrika. Ihre Eheschließung ist skandalös, ihre Ehe fruchtbar - beruflich wie privat. Die drei Söhne verbringen ihre Kindheitstage in Ausgrabungscamps, denn von Louis' Leidenschaft ist auch Mary schnell infiziert.
Die Leidenschaft füreinander allerdings erlischt allmählich. Ernüchtert von den Seitensprüngen ihres Mannes zieht sich Mary immer weiter auf ihre Feldarbeit zurück. Ab und zu empfängt sie Gäste, von denen sie niemand verlässt, „ohne zu wissen, dass es ein Privileg ist, sie hier draußen besuchen zu dürfen.“ Derweil schwärmt Louis in die Welt hinaus, präsentiert die Funde, wirbt um Mäzene und rekrutiert Verehrerinnen „für seine Armee junger Heldinnen der Wissenschaft“. Dass 1978 in Marys Grabungsgebiet in der Olduvai- Region in Tansania die Fußspuren aufrechtgehender Vormenschen entdeckt werden, erlebt er nicht mehr. Vier Jahre zuvor ist er auf einer seiner Reisen einem Herzanfall erlegen. Mary überlebt ihn 24 Jahre.
Das, was diese beiden besessenen Schatzgräber ans Tageslicht befördert haben, zeugt von einem Garten Eden, der wenig mit dem Paradies des Alten Testaments gemein hat - auch wenn sich immer wieder biblische Motive in dem Romantext finden, vom Baum der Erkenntnis und der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum tödlichen Bruderzwist zwischen Kain und Abel. Das Leben in grauer Vorzeit war ein fortwährender Kampf, der nur im Schutz der Sippe gewonnen werden konnte. „Die Gefahr ist überall. Sie lauert in der Dunkelheit. Sie verbirgt sich im Schatten der Bäume. Im Wasser verbirgt sie sich.“
Knauss versteht das Dunkel der Vergangenheit zu erhellen, indem sie ihr Schlaglicht auf einzelne Szenen wirft, die für die Weiterentwicklung des Homo sapiens entscheidend waren. Ob sie nun schildert, wie erste Wörter im Überlebenskampf entstanden, wie sich die beliebige Wahl eines Weibchens zur Begattung in einen exklusiven Liebesakt verwandelte, wie das Lächeln und der Faustkeil in die Welt kamen, oder wie die Sehnsucht nach Besitz erwuchs - immer denkt sie sich tief in die Wahrnehmung dieser menschlichen Urahnen hinein. Dank ihres besonderen Talents für visuelles Erzählen erwachen ihre fiktiven Welten vor den Augen des Lesers zu buntem Leben.
Als eine, die der Zeit auf den Grund geht, reißt die Autorin am Ende der Geschichte auch noch die letzte temporäre Grenze ein: In ihren finalen Fantasiebildern erlebt die sterbende Mary eine rasante Reise durch Zeit, Raum und Evolution, bis sie dort bei den „Tieren, die Feuer gemacht haben“ ihr Ziel erreicht. Das ist fantastisch wie ein Leinwandabenteuer, faszinierend bebildert, anregend und vieldeutig. Vor allem aber ist es unterhaltsam. Denn wie stets in ihren Büchern hat Sibylle Knauss auch hier Voltaires Rat beherzigt, dass jede Art zu schreiben erlaubt sei, „nur eine langweilige nicht“.
Literaturangaben:
KNAUSS, SIBYLLE: Eden. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. 381 S., 19,95 €.
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