Knapp Achthundert Seiten. Und dann dieser Titel: „Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze.“ Der neue Roman des Berliner Autors kommt gewichtig daher – reichen die „Simple Storys: Roman aus der ostdeutschen Provinz“ nicht mehr?
Einerseits steht „Neue Leben“ in der Tradition von „Simple Storys“ – Schulze hat seinen Roman wieder in der „Skatstadt“ Altenburg angesiedelt, es wiederholen sich einige Motive des Zweitlings, wie die erste Auslandsreise nach der Wiedervereinigung, in dem neuen Schmöker. Beide Romane haben eine spezielle Haltung zur Handlung. In „Simple Storys“ erzählen kleine Geschichten ein Mosaik der Stadt Altenburg, die unterschiedlichen Perspektiven der „Storys“ erzeugen Brüche, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche.
Brüche in der Einheit
„Neue Leben“ scheint zunächst anders zu sein, nach einer Einheit zu streben. Ingo Schulze hat sich für die wohl subjektivste (und im Zeitalter der Blogs und Podcasts altmodischste) Romangattung entschieden, den Briefroman. Doch die zentrale Perspektive ist brüchig. Da ist der launische und besserwisserische fiktive Herausgeber „Ingo Schulze“, der die Briefe durch Fußnoten kommentiert und mit einem Vorwort in das Geschehen einführt. Da sind die im Anhang versammelten frühen Prosaversuche des Briefschreibers, die dem Protagonisten Tiefenschärfe verleihen. Da sind die Briefe selbst. Enrico Türmer schreibt an drei Adressaten: der geliebten Schwester Vera, dem Jugendfreund Johann Ziehlke und der angebeteten westdeutschen Fotografin Nicoletta Hansen, die die umfangreichsten Briefe erhält – eine Art Lebensbeichte. Durch die unterschiedlichen Adressaten ergeben sich inhaltliche Diskontinuitäten, Widersprüche, Mehrschichtigkeiten, zeitliche Schleifen (der letzte Brief beschreibt dieselbe Szene wie der erste). Durch diesen aufgebrochenen Standpunkt entfaltet der Roman einen unwiderstehlichen Sog, und zieht den Leser in seinen Bann.
Vom Autor zum Chef
Die „Simple Storys“ beschrieben Nachwehen der deutschen Einheit, die Auswirkungen auf die Einwohner des Landes, dass einmal DDR hieß. In „Neue Leben“ nähert sich Schulze diesem Beben von zwei Seiten. Enrico Türmer schreibt seine Briefe zwischen dem 6. 1. und 11. 7 1990, also zu einer Zeit der Schwebe, des Überganges: Die DDR war nicht mehr DDR, aber auch noch nicht BRD. Die Nachbeben vom Herbst 1989 waren überall zu spüren, rissen noch einige Häuser ein. Gleichzeitig schreibt Türmer an die schillernde Unbekannte aus dem Westen von seinem Leben in der DDR, von seinen unbeholfenen Versuchen Schriftsteller zu werden („Man denkt, man hat eine Begabung, und dann versaut man sich damit das Leben.“), seiner Schulzeit, seinen Freund- und Liebschaften, seinem Studium, seiner Zeit als Dramaturg am Theater in Altenburg, von der „Wende“. In diesen Briefen schreibt er direkt über das Hauptthema des Buches, dass in den anderen Briefen nur gezeigt wird: „Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet?“
Schon in Enricos Kindheit begann der Westen sich in seinen Kopf auszubreiten, mit Paketen der Verwandten, den Besuchen der Großmutter in der BRD, dem Westfernsehen und –Rundfunk. Der „Markt“, wie der Westen von den Altenburgern genannt wird, hat früh die Psyche Türmers durchsetzt. Und doch kommt die Wende wie ein Schock: Enrico reagiert auf die enormen Veränderungen des Herbstes 1989 nicht mit Aktionismus und Engagement (zum Beispiel im Neuen Forum, dem er durchaus nahe steht), sondern mit Krankheit, Depression. Diese Phase der körperlichen Krise, ein Anpassen an die Veränderungen, machen alle Charaktere des Romans früher oder später durch. Enrico beendet die Krankheit durch eine Art symbolischen Selbstmord – alle Manuskripte, alle unbeholfenen Versuche als Schriftsteller werden zu Schmierpapier, auf dem er später die Briefe an Nicoletta schreibt. Durch die zwei Wochen im Bett, scheint es, hat Enrico schon früh die Basis für seine Anpassungsfähigkeit und Entscheidungsfreude gefunden.
Im Januar 1990 kündigt er seine Anstellung am Theater in Altenburg, um bei einer neu gegründeten freien Zeitung als Redakteur zu arbeiten. Aus dem Vorwort weiß der Leser, dass eben jener Türmer Jahre später als Leiter eines „weitverzweigten Unternehmens“ vor der Steuer flüchten muss. Die erste Jahreshälfte 1990 ist also die Geburtsstunde eines waschechten Kapitalisten, eines Chefs, eines kleinen Medienmoguls; „Neue Leben“ zeigt den Weg eines DDR-Bürgers ins vereinte Deutschland, die Entwicklung eines Autors zum Unternehmer als eine Art Wiedergeburt. Als Hebamme, Geburtshelfer, fungiert ein windiger Unternehmensberater aus dem Westen, der Baron Clemens von Barrista. Er weiht Türmer in die Geheimnisse des Westens ein, vom guten Essen, Kleidungsstil bis hin zu den praktischen Grundlagen der Marktwirtschaft. Als Taufe spendiert der Baron ihm eine Spritztour nach Monte Carlo, samt einem 5000-DM-Budget, das Türmer in den Casinos verspielen soll. Clemens von Barrista ist ein Souffleur, der Türmer die Werte des Westens einflüstert, ein teuflischer Zeremonienmeister des Kapitalismus.
Altenburger Momente
Die Ereignisse in der ersten Jahreshälfte 1990 bilden den Rahmen für die Rückblenden Enricos in den Briefen an die westdeutsche Fotografin, und den Vorblenden in den Fußnoten des „Ingo Schulze“. Und in diesen Rahmen verstecken sich wunderbare Passagen. Die erste Reise nach Paris, die durch Enricos Wahrnehmung ins Surreale kippt. Der Aufenthalt in Monaco. Verschiedene Mahlzeiten, wo der Westen physisch aufgenommen wird („Gibt es nicht eine Meditationsart, bei der die Abfolge erlesenster Speisen die Seele reinigt?“). Eine Sitzung des Neuen Forums. Die Resignation eines der Gründer der neuen Zeitung (Enrico: „Ich verachtete ihn wegen seines Hochmuts, ein Hochmut, der im Hader mit der Welt liegt, weil sie ist, wie sie ist, der irgendwelchen Ideen, dem Eigentlichen, dem Philosophischen nachjagt, anstatt im Alltag zu bestehen.“). Die Lust am Schreiben, in einem Alltag wo selbst das Telefon noch nicht Allgegenwärtig ist. Die Schicksalhaftigkeit die über der Aufbruchsstimmung schwebt, die durch die Gegenwart in einem neuen Licht scheint.
Wunderbar gelingt es Schulze, diese Atmosphäre einzufangen, und in jedem Brief neu erscheinen zu lassen. Bis auf Weiteres ist „Neue Leben“ der einzige Roman über die deutsche Einheit, der zählt, weil er seine Leser vortrefflich zu unterhalten versteht, ohne zwanghaft komisch seien zu wollen, weil die zersplitterte Erzählung der Briefe eine moralisch-einseitige Sicht auf das Erzählte konterkarieren, weil der Leser nach der Lektüre mehr weiß als vorher, und weil der Leserin wieder bewusst wird, wie viel Geschichte sich seit der Wiedervereinigung ereignet hat, wie stark aber BRD und DDR die Gegenwart noch beeinflussen.
Literaturangaben:
SCHULZE, INGO: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. Berlin Verlag, Berlin 2005. 752 S., €22,00.