Wer ist dieser Marcel Beyer, der als der reflektierendste junge deutsche Autor der Gegenwart gilt? Was zeichnet diesen 1965 in Taiflingen / Baden Württemberg geborenen, bis 1996 in Köln und heute in Dresden wohnenden und arbeitenden Autor aus?
Bereits 1989 erschien sein erster Gedichtband „Kleine Zahnpasta“. Neben Lyrik und Prosa, veröffentlichte Beyer journalistische Arbeiten zu Musik und Literatur. Die Vergangenheit, ihre Ruhelosigkeit und der Umgang mit dieser in der Sprache ist Schwerpunkt seines literarischen Schaffens. 1991 erschien sein erster Roman „Das Menschenfleisch“, gefolgt von „Flughunde“ (1995) und „Spione“ (2000). Beyer wurde unter anderem mit dem Berliner Literaturpreis, dem Heinrich Böll Preis und dem Hölderlin Preis bedacht.
Immer wieder sind es Tiere, die der Autor in seinen Büchern dem Menschen gegenüberstellt, deren Verhalten in einen menschlichen Kontext gestellt wird. War in seinem Roman „Flughunde“ die Hauptfigur der Stimmensammler Hermann Karnau, so ist es in seinem neuen Buch der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborene Biologe und Verhaltensforscher Ludwig Kaltenburg.
Kennzeichnend für all seine Romane ist außerdem, dass sich Beyer mit dem Stoff seiner Erzählung intensiv vertraut macht, indem er sich historische, naturkundliche und technische Daten aneignet, ja geradezu aufsaugt und substantiell mit ihnen verschmilzt, so dass man an deren Authentizität absolut nicht zweifelt und verblüfft ist, wenn beim Nachgoogeln die entsprechenden Personen oder Schauplätze nicht zu finden sind.
Beyer ist der „Erfinder der Wirklichkeit“, der „Magier authentischer Illusion“. Und das macht ihn in Deutschland wohl so einzigartig.
Angelegt ist der Roman „Kaltenburg“ als Lebensrückblende des Ornithologen Hermann Funk, der als Ich-Erzähler fungiert. Seit seiner Kindheit steht er in einem mehr oder weniger engen Abhängigkeitsverhältnis zu eben jenem Ludwig Kaltenburg. Diese, seine Erinnerungen tauchen leicht und spielerisch, dann wieder schwer und schmerzhaft während mehrerer Gespräche mit Katharina Fischer – einer Dolmetscherin – auf, die er in der Dresdner Ornithologischen Sammlung berät.
Die ersten zaghaften Erinnerungen des Ich-Erzählers setzen in Posen in den Dreißiger Jahren ein. Dort verbringt der stille Junge im Haus seiner gutbürgerlichen Familie, der Vater ist Botaniker und lehrt an der hiesigen Universität, eine glückliche Kindheit. Reminiszenzen an sein polnisches Kindermädchen, die vielen kranken Vögel, die sein Vater aufpäppelt und vor denen er mehr Angst hat, als dass er Zuneigung empfindet, bestimmen seine frühen Erinnerungen.
Hier in Posen begegnet er zum ersten Mal dem schon damals in der Fachwelt bekannten Biologen Ludwig Kaltenburg, der ein Kollege seines Vaters ist und eigentümliches Interesse an dem introvertierten Buben hat. Eines Tages belauscht er ein Gespräch seines Vaters mit Kaltenburg. „Todeszone“ ist das einzige Wort, was er versteht und das sich ihm einprägt. Den Sinn sollte er erst viel später verstehen und sein Bild des ehrfurchtsvollen Mannes gehörig durcheinander schütteln. Überhaupt nimmt er die politischen Umwälzungen des Dritten Reiches sowie den Krieg nur am Rande wahr.
Wie so viele Familien müssen auch die Funkes aus Posen fliehen. Das Schicksal seines geliebten Kindermädchens – damals mit den Augen eines unschuldigen kleinen Jungen wahrgenommen – begreift er damals nicht. Er später werden Vermutungen zur grausamen Gewissheit.
Der gewählte Zufluchtsort – Dresden – sollte sich jedoch als Farce herausstellen. Funk gerät in das Hölleninferno des Angriffs vom 13. Februar 1945, bei dem die Perle des Barocks, das Elbflorenz, durch das er noch am Tag zuvor mit seiner Mutter flanierte, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Der Junge verliert seine Eltern und kommt bei einer Pflegefamilie um.
Gerade diese Erinnerungen des Flammeninfernos, das Hermann Funk als kleiner Junge im „Großen Garten“, einer weitläufigen Grünanlage im Herzen der Stadt, überlebt, ist äußerst intensiv und emotional erschütternd gezeichnet. Doch nicht den Menschen erlebt Funk in seinen kindlichen Beobachtungen, sondern das sinnlose und erschütternde Sterben von Vögeln. Eine unglaublich intensive und affektive Textpassage gelingt Marcel Beyer an dieser Stelle.
Für Funkes weiteren Lebenslauf sollten fortan Vögel prägend sein. Intensiviert auch durch eine Widerbegegnung mit Ludwig Kaltenburg hier in Dresden, der im renommierten Stadtteil Loschwitz ein anerkanntes Ornithologisches Institut eröffnet. Dass er Ornithologie studiert und anschließend als engster Mitarbeiter neben dem Professor agiert, ist ungeschriebenes Gesetz.
Kaltenburg dirigiert fortan sein weiteres Leben, bis zu seiner Flucht nach Wien kurz nach dem Mauerbau. „Kaltenburg“ ist jedoch keineswegs chronologisch angelegt, sondern springt sporadisch durch die Stationen der Erinnerungen, die bei den Gesprächen mit der Dolmetscherin zu Tage treten. Der rote Faden geht jedoch niemals verloren.
Haupthandlungsort bleibt Dresden, doch ist es kein Dresdenroman und auch keine DDR-Historie, wenn auch viele Originalschauplätze identisch und als Dresdnerin für mich wunderbar nachzuvollziehen sind.
Auch ist Beyers neuestes Werk weder Entwicklungsroman noch Romanbiografie. Auch wenn Ludwig Kaltenburg starke Parallelen zum österreichischen „Einstein der Tierseele“, dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz aufweist und Beyer sich sicherlich seines Lebensweges bedient hat. Doch lediglich gewisse Eckdaten dessen Lebens (Mitglied der NSDAP, Professur in Königsberg, Zusammenarbeit mit berühmten Ornithologen und Botanikern, Mitarbeit an erbbiologischen Studien in Posen, sowjetische Kriegsgefangenschaft) werden nach Dresden, in der ehemalige DDR projiziert.
Letztendlich geht es Marcel Beyer um Möglichkeiten des Daseins, um die „Druckkammern historischer Gegebenheiten“, um Stimmungen, um die „Urformen der Angst“ und das Menschen zu allem fähig sein können, auch dem Schrecklichsten – im Gegensatz zum Tier.
Tiere und ganz speziell Vögel (Krähen und Dohlen) spielen eine große Rolle, aber immer wieder der Mensch und zivilisatorische Einflüsse auf dessen Erkenntnisvermögen und Wahrnehmung.
Und natürlich geht es um das Erinnern.
Einfach macht es Marcel Beyer dem Leser jedoch nicht. Der Lektüregenuss braucht eine gewisse „Einarbeitungszeit“. Zur Orientierung im ungewohnten Raum seines Romankonstrukts ist Konzentration vonnöten. Nur dann können die verborgenen, aber gezielt gelegten Fährten seines Textes ausfindig gemacht werden. Diese wiederum weisen auf Einzelheiten hin und decken Zusammenhänge auf, die dem Leser, kaum dass er sie erkannt hat, selbst wieder fraglich scheinen.
„Kaltenburg“ ist ein Netz ineinander gewobener Bilder, eine anspruchsvolle Collage, montiert aus zahlreichen Erinnerungsstücken des Ornithologen Hermann Funk, die verschiedene Perspektiven aber auch Gegensätze bilden und untrennbar mit dem Biologen Ludwig Kaltenburg verknüpft sind.
Dabei bedient sich Marcel Beyer teils fiktiver, teils realer Ereignisse von der Zeit kurz vor dem Nationalsozialismus bis nach den Fall der Mauer und dem wiedervereinten Deutschland. Einige der Figuren sind mit historischen Personen assoziiert, aber sie dienen nur als Projektionsflächen für Marcel Beyers Ideen.
Ein großes Stück anspruchsvoller Literatur.
Von Heike Geilen
Literaturangaben:
BEYER, MARCEL: Kaltenburg. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 397 S., 19,80 €.
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