Was bleibt einem übrig, wenn man erkennt, dass man selber ein Reaktionär und ein Konterrevolutionär ist? Wenn also der eigene Platz nicht bei Freunden und Kollegen ist und man selber auf der Seite der Rinderdämonen und Schlangengeister steht? Und rein intuitiv da steht, nicht aus Kalkül, Wahl oder weil es nützt. Sondern weil alle Eigenschaften des Konterrevolutionärs auf einen zutreffen.
Diesen Weg des unrevolutionären Konterrevolutionärs in die Einsamkeit erzählt der Literaturnobelpreisträger von 2000. Ganz praktisch liegt in der Einsamkeit der Schlüssel zum Überleben des Protagonisten. Den überschlagenden Wirren der Kulturrevolution und den kollabierenden Alltagsnormen der totalen Erhebung entkommt der Protagonist in Etappen immer tiefer in den Süden Chinas. Als geborener Pekinger ein radikaler Schritt der geografischen Emigration, begleitet von der sozialen und politischen, zum Ende auch von der inneren Emigration.
Der Protagonist sucht die Einsamkeit. Nur in ihr kann er die Sicherheit finden, die ihn in den Endphasen der Kulturrevolution am Leben hält. Anfangs kämpfte er, führt eine der unzähligen Fraktionen im Chaos, treibt aber bald nur noch in den Strömungen der Hauptstadt wie der Provinzen.
Vielfältige Einsamkeit
Einher mit der geografischen Immigration geht eine soziale. Mit jedem Rückzug bricht eine Verbindung zur eigenen Vergangenheit ab. Mit jedem Rückzug wird auch die eigene Biografie allmählich unwichtiger. Er schlüpft immer tiefer in fremde Häute – nur um zum Zeitpunkt der tiefsten Immigration die Selbsttäuschung dieses Weges zu erkennen.
Als Resultat dieser Erkenntnis folgt dann ein kompletter Bruch mit der eigenen kulturellen, sozialen und politischen Identität. Am Ende ist ihm auch die eigene Muttersprache nur mehr das Vehikel des Ausdrucks, aber nicht mehr Verbindung zu solchen Konzepten wie Heimat, Herkunft oder Zugehörigkeit. Am Ende ist er ein einsamer Mensch.
Dieser finale Bruch wird um so drastischer, weil die Entwicklung hin auf diesen Zustand nicht wirklich geschildert wird. Der Bruch fällt in eine Lücke der Erzählstruktur, in der die Gegenwart des Erzählers –kurz vor der Rückgabe Hongkongs bis knapp nach dem Jahrtausendwechsel– die Klammer für die erinnerte Vergangenheit bildet. Erinnert wird aber nur bis zur politischen Rehabilitierung des Protagonisten, das spätere Exil in Europa ist in den Erinnerungen nur ein Nebensatz. Die Gegenwart des Einsamen ist komplett außerhalb Festlandchinas.
Die Leichtigkeit im Paradoxen
Mit dem Weg zum einsamen Menschen erzählt Gao Xingjian eine paradoxe Geschichte, denn durch den Widerstand gegen den Terror der Unfreiheit entwickelt sich nicht nur eine Überlebensstrategie, sondern auch eine der intellektuellen und ästhetischen Befreiung. Der einsame Mensch ist ein befreiter Geist. Das ist nur eine Lesart des Buches, an dem es mehr zu entdecken gibt als die hier verfolgte Linie, lohnt aber des Festhaltens: Da steckt eine gehörige Prise Optimismus und Leichtigkeit drin.
Ob das nun autobiografisch ist oder nicht, ist eher zweitrangig. Es ist auf jeden Fall ein faszinierendes Buch, eine mit unglaublicher Leichtigkeit erzählte Geschichte über den Menschen und das Leben.
Literaturangaben:
XINGJIAN, GAO: Das Buch eines einsamen Menschen. Aus dem Chinesischen von Natascha Vittinghoff. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 478 S., 29,90 €.