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Die Suche, die uns Worte lehrt – ein Roman aus Island

Jón Kalman Stefánssons „Sommerlicht, und dann kommt die Nacht“

Von: MONIKA THEES - © Die Berliner Literaturkritik, 24.04.08

 

Ein 400-Seelen-Kaff an der Westküste Islands, ein paar Dutzend Einfamilien- und Reihenhäuser, dazu der Schlachthof, die Molkerei, der Genossenschaftsladen und die Strickfabrik. Die dunklen Tage sind lang hier oben am Polarkreis, die Sommer kurz und schnell vorbei. Was gibt es da Bemerkenswertes? „Jetzt hätten wir beinah geschrieben“, so beginnt Jón Kalman Stefánsson, „dass die Besonderheit des Örtchens darin besteht, keine Besonderheit zu haben, aber das ist nicht ganz richtig.“ So wird er berichten: von einem Fabrikleiter, der eines Nachts beginnt, auf Latein zu träumen, von Elísabets dunklem Samtkleid, von einem Mann, der die Fische nicht zählen konnte, kurz: von den Freuden, der Sehnsucht und den Träumen einer Handvoll Menschen dort oben am Fjord.

„Sommerlicht, und dann kommt die Nacht“, nennt der 1963 in Reykjavík geborene Jón Kalman Stefánsson seinen neuen Roman, der Lebenswege und Schicksale einer Handvoll Menschen lose verknüpft und in kleinen Geschichten Antworten sucht auf die großen existenziellen Fragen des Lebens. „Wozu habe ich gelebt, fragte unsere Tante auf dem Totenbett, und wir öffneten den Mund, um eine Antwort zu geben, ohne eine zu kennen, doch da war sie schon tot …“ Der Chef der Strickfabrik, unternehmerisch erfolgreich und glücklich verheiratet, gibt Haus, Hof, Familienleben auf und wird zum Sternengucker. Der Astronom, wie ihn seither alle nennen, korrespondiert in Latein, lässt sich teure alte Bücher schicken und lädt einmal im Monat ins Gemeindezentrum, zum Vortrag über die Sterne, das All und darüber, „worauf es ankommt“.

Jónas hat das Wellblechhaus des Astronomen pechschwarz gestrichen, bis auf ein paar weiße Punkte auf den Seiten und auf dem Dach: Der schwarze Nachthimmel mit dem Großen Wagen, den Pleiaden, Kassiopeia und Boötes ist auch tagsüber weithin sichtbar. Jonas, der schmächtige und zarte Junge, dessen Mutter früh verstarb, verlor auch seinen Vater Hannes. In tiefer Depression griff der Dorfsheriff, ein Hüne von Mann, immer wieder zur Wodkaflasche und zu den Psalmen Hallgrímur Péturssons, bis er eines Nachts die Schatten auf seiner Seele nicht mehr ertrug und seinem Leben ein Ende setzte. Jónas, sein Sohn, der am liebsten durch Feld und Flur streift, die Vögel beobachtet und malt, wird Stärke zeigen und seinem Vater nachfolgen als Ortspolizist.

„Die Zeit vergeht, wir leben und sterben“, schreibt Stefánsson. „… wie groß ist der Abstand zwischen Leben und Tod, gibt es da überhaupt einen Abstand, und wenn ja, was bedeutet das dann? Messen wir ihn in Kilometern oder in Gedanken, und gibt es welche, die es hinüber schaffen – und auch wieder zurück?“ David und Kjartan sind sich da nicht sicher: Es spukt in der Lagerhalle des Genossenschaftsladens. Erst fallen von einer Palette aus sechs Metern Höhe schwere Säcke mit Kraftfutter auf den Hallenboden. Einige Tage später zerspringen im Abstand einiger Sekunden die Glühbirnen. „Meinst du, es hat was mit den Ruinen zu tun?“, fragt David. Denn unter der Halle liegen die Reste eines in Brand gesetzten Bauernhauses und mit ihnen die Opfer einer Familientragödie.

Jón Kalman Stefánsson verknüpft Realität und Fantasie, er schildert kleine Begebenheiten des Alltags, die Macht der großen Triebkräfte unserer Existenz, Liebe, Sehnsucht und Begehren, und die stets lauernde Dunkelheit. Die Freude, das Lachen sind nah am Schmerz, das Heitere oft nur ein Wort entfernt von den Abgründen der Seele. Und diese sind tief. So bei Ásdís, Kjartans Frau: Als sie weiß, dass ihr Mann sie mit Kristín vom Nachbarhof hintergeht, erschießt sie mit der alten Schafspistole zunächst die drei Welpen der Hofhündin, schlägt dem Hahn den Kopf ab und richtet die Waffe gegen ihren Mann …

Die Menschen der kleinen isländischen Küstenorte, ihr Denken und Fühlen, ihre Träume – sie sind Jón Kalman Stefánsson vertraut. Von 1975 bis 1982 arbeitete er in der Fischindustrie, als Maurer und für kurze Zeit auch als Polizist am Fughafen von Keflavík. Erst ab 1986 studierte Stefánsson Literaturwissenschaft, er unterrichtete an einer Schule in Akranes, leitete die Stadtbibliothek in Mosfellsbaer, schrieb Beiträge für Zeitschriften und den Rundfunk, später dann Romane („Der Sommer hinter dem Hügel“, „Das Licht auf den Bergen“, „Das Knistern in den Sternen“) und Lyrik. Sein Roman „Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit“ wurde für den Großen Preis des Nordischen Rates nominiert. Für seinen jetzt bei Reclam erschienenen Roman „Sommerlicht, und dann kommt die Nacht“ erhielt Stefánsson 2005 den Isländischen Literaturpreis.

Der größere Fernseher, das hippste Handy, der Traum vom besseren Leben schlummert für viele auf dem neuen Sofa. Doch die Zeit vergeht, uns treibt die Suche nach dem Glück, vielleicht auch nach dem Kern der Sache, doch der weicht immer wieder zurück wie das Ende des Regenbogens. Wir müssen begreifen, so Stefánsson: „Die Suche selbst ist das Ziel, ein Endergebnis würde uns seiner selbst berauben“, und fügt hinzu: „Und natürlich ist es die Suche, die uns die Worte lehrt, mit denen wir das Funkeln der Sterne, das Schweigen der Fische, Trauer und Lachen, das Ende der Welt und das Sommerlicht beschreiben können.“

Literaturangaben:
STEFÁNSSON, JÓN KALMAN: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht. Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2008. 312 S., 19,90 €.

Verlag

Monika Thees ist Redakteurin dieses Literatur-Magazins


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