Von Thomas Borchert
Diesen atemberaubenden homoerotischen Auftakt erwartet man wahrlich nicht auf der ersten von mehr als 700 Seiten Briefwechsel zwischen zwei berühmten Philosophen: „Ich fühlte in diesen beiden Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu Dir, dass es mir so vorkommt, als könne ich allein nicht bestehen.“ Siegfried Kracauer, vor allem als Theoretiker neuer Massenmedien bekanntgeworden, schreibt den Satz 1923 als 34-Jähriger an den 14 Jahre jüngeren Theodor W. Adorno, mit Max Horkheimer herausragender Kopf der „Frankfurter Schule“ und Vordenker der Studentenrevolte 1968. 269 Briefe haben beide Gelehrte bis zum Tod Kracauers 1966 in New York einander geschrieben. Sie sind jetzt nun nach viel Hin und Her komplett veröffentlicht.
Kracauers sexuelles Verlangen nach dem jüngeren Freund bleibt unerwidert. Das hindert beide jedoch nicht, sich in den folgenden Jahrzehnten mit grenzenloser Leidenschaft trotz räumlicher Entfernung brieflich miteinander zu beschäftigen. Beide publizieren und überziehen den anderen jeweils mit oft vernichtender, vor schweren persönlichen Verletzungen nicht zurückschreckender Kritik: Konkurrenz um möglichst scharfes Denken, die vor nichts zurückschreckt.
Wiederum atemberaubend, wie der sich selbst für einen genialen Denker haltende Adorno dem Freund noch im April 1933 nach Paris schreiben kann: „Im Übrigen ist mein Instinkt für Dich der: nach Deutschland zurückkommen. Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung; ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren.“ Sechs Wochen vorher hatten die Nazis nach dem Reichstagsbrand die Verfolgung ihrer Gegner massiv verschärft und kritische Stimmen wie Carl von Ossietzky und Erich Mühsam hinter Gitter gebracht. Beide starben in KZ-Haft.
Kracauer folgte dem schrecklich dummen Rat des Freundes trotz enormer materieller Probleme im Ausland nicht. Der selbst stets gut gesicherte Adorno ging 1934 nach Oxford und 1938 in die USA, wo auch Kracauer sich durchzuschlagen versuchte. Hier blieb er. Adorno kehrte 1949 nach Frankfurt zurück und fand bis zu seinem Tod 1969 als kritische Stimme in der frühen Bundesrepublik wesentlich stärkere öffentliche Beachtung als Kracauer.
Die extrem tiefgreifenden und für beide auch persönlich immer wieder fürchterlichen zeitgeschichtlichen Vorgänge um sie herum bleiben in den Briefen stets am Rande. Im Zentrum stehen das eigene und das Denken des anderen – und wie es öffentlich dargestellt wird. Oft gnadenlos verreißen sie in ihren Briefen publizistische Aktivitäten des jeweils anderen und schrecken dabei nicht vor Beleidigungen und Gefährdung von Einnahmequellen des anderen zurück.
Solche Auseinandersetzungen führten zu Unterbrechungen des Briefwechsels, haben die enge gegenseitige Bindung aber nie ganz zerstören können. Der letzte Brief Adornos mit der Anrede „Lieber Friedel“ datiert vom 21. Oktober 1966, einen Monat vor dem Tod Kracauers. Er ist ein bisschen unzufrieden, dass der Freund sein neues Buch über Kierkegaard noch nicht gelesen und kommentiert hat. Unbedingt positiv herauszuheben ist die sorgfältige Kommentierung und Erläuterung der Briefe. (dpa/jud)
Literaturangaben:
ADORNO, THEDOR W. / KRACAUER, SIEGFRIED: Briefwechsel 1923-1966. „Der Riß der Welt geht auch durch mich“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 771 S., 32 €.
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