Zwei Schwestern mittleren Alters touren durch das heutige Bulgarien, nachdem sie die Überreste ihres vor Jahren in Stuttgart gestorbenen Vaters in seine alte Heimat überführt haben. Die ältere Schwester sitzt vorne auf dem Beifahrersitz, die jüngere, die Ich-Erzählerin, hinten auf der Rückbank. Sie sind unterwegs mit Rumen Apostoloff, einem langjährigen bulgarischen Freund der Familie. Er ist ihr Hermes, er fährt den alten Daihatsu, möchte den beiden Frauen die Schätze seines Landes zeigen. Doch: „Meine Schwester und ich wissen es besser, solche Schätze existieren nur in bulgarischen Hirnen. Wir sind überzeugt, Bulgarien ist ein grauenhaftes Land – nein, weniger dramatisch, ein albernes und schlimmes.“
Der Zorn, die Wut gären auf dem Hintersitz, köcheln hinter Abwehr und trotziger Selbstbehauptung – und entladen sich in einer wortgewaltigen Suada, scharfzüngig, kampfeslustig, herausfordernd zum Widerspruch. Malerische Rhodopenschluchten, Rosenfelder, die Schwarzmeerküste, Le Mystère des voix bulgares – die ältere Schwester quittiert Rumens Aufzählung mit einem lieblichen Lächeln, die jüngere grollt, trotzt, denkt sich einig mit dem Schwesterherz: „Nüchtern bleiben ist eine Kunst. Eisern wird sie von uns praktiziert, sobald wir bulgarische Luft wittern, gar die ersten vorsichtigen Schritte auf bulgarischem Boden tun.“ Geschwisterliche Gemeinsamkeit wird beschworen. Ihre Schwester ist nur zu höflich, zu vorsichtig, ihrer Abneigung freien Lauf zu lassen.
So redet die jüngere allein an, gegen Rumens freundliche Vermittlungsversuche, mehr noch gegen den inneren Ansturm der „Vaterwoge“, gegen die „nachts begonnenen und tagsüber ausgeschmückten Träume, in denen unser Vater regelmäßig wiederkehrt“. Denn Bulgarien, dieses geschundene, stumpfsinnige Land – das ist die Heimat des Vaters. 1945 verließ er Sofia, übersiedelte nach Deutschland, studierte Medizin, wurde ein erfolgreicher Arzt, Ehemann und Vater – und ein schwermütiger Einwanderer, der sich 1965 in seiner Stuttgarter Praxis das Leben nahm, mit einem Strick um den Hals, einem Strick, den er seitdem hinter sich herschleift. Die jüngere Schwester war damals elf, die ältere dreizehn. Das scheinbar friedliche Familienidyll in Stuttgart-Degerloch durchzog ein Riss, eine bis heute nicht heilende Wunde.
Sibylle Lewitscharoff, die viel gelobte Schriftstellerin und Grafikerin, 1954 in Stuttgart geboren und väterlicherseits selbst bulgarischer Abstammung, hat sich ein Thema gewählt, das es in sich hat: das Erbe der Kindheit, die Last eines früh aus dem Leben gegangenen Vaters, die gleich-ungleichen Schwestern und das hassgeliebte Bulgarien mit seiner Folie aus auf Hochglanz retuschierten Sightseeing-Ansichten, hinter denen viel Armut, Elend und eine desaströse kommunistische Verschandelung hervorbröckeln. Ein Land, dessen Kultur und Tradition die Ich-Erzählerin in Gift und Galle redet: die Architektur versaut, die Schwarzmeerküste verbaut, verpatzt, verdreckt. „Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch“, die Pfauenaugen-Keramik toxisch, die Sprache die abscheulichste der Welt.
Das klingt nach massivem Land- und damit Vaterhass, ist kindlich dahingerotzt – und exzellent geschrieben. Sibylle Lewitscharoff, die für „Pong“ 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, 2007 mit dem Preis der Literaturhäuser und 2008 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet wurde, verblüfft erneut, ja verzaubert mit sprachlicher Intensität, mit wortschöpferischer Eigenwilligkeit und Gestaltungsgabe. Nach „Montgomery“ (2005) und „Consummatus“ (2006) gibt sie jetzt einer Frau das Wort. Mit scharfem Messer seziert die Ich-Erzählerin ihre Tour de Bulgarie, exakt gesetzt sind ihre Schnitte, sie schmerzen, gehen unter die Haut und legen bloß: ein verwundetes, namenloses Ich, das sich nur retten kann in die innere Distanz – zu all dem Brimborium, dem brüchigen Als-ob stimmiger Biografie und den Anmaßungen der deutsch-bulgarischen Familiensippe. Aus dieser Perspektive, verschanzt hinter Mauern des Selbstschutzes, lässt sich vortrefflich entlarven, die Haut der verkleisterten Schablonen abschälen bis zum nackten Gerüst des Lächerlichen.
Die ältere Schwester wendet sich Rumen zu und schweigt, so wird der Leser zum alleinigen Gegenüber der jüngeren: „Jetzt ist aber eine Erklärung fällig: welcher Dämon treibt uns, die wir das Land des Vaters wortstark verabscheuen, längs und quer darin herumzufahren wie brave, pietätvolle Christinnen?“ Es war die Überführung von neunzehn bulgarischen, längst in deutscher Erde vermoderten Toten nach Sofia, die Heimholung ihrer Überreste mittels schwarzer Limousinen, die quer durch Europa kutschierten, damit die einst Ausgewanderten ihre letzte Ruhe fänden auf heimischen Boden. Ein monströser Leichenzug de luxe, grotesk, gar größenwahnsinnig. Ein alter Bulgarenkumpel, Alexander Tabakoff, hatte ihn inszeniert und finanziert. Tabakoff, der in der Stuttgarter Zeit reich wurde durch undurchsichtigen Import-Export-Handel und aufstieg zum dollarschweren Großunternehmer, ließ sich die Heimholung der toten Exilbulgaren einiges kosten – nur die besten Hotels, das teuerste Klimbim und so einige Geldscheine extra für zögerliche Hinterbliebene.
Die Lebenden holen die Toten heim, doch diese lassen sich nicht verriegeln im Sofioter Grabhaus aus Stein, im „Minaturpueblo“ mit filigranen Messingtürchen; vielmehr: Die Toten holen die Lebenden ein, „sie kommen höchstpersönlich und nicht nur im tintigen Pfuhl der Nacht“. Ein Ansturm von Bildern aus längst vergangenen Tagen bedrängt das Ich, schemenhaft der Vater, die Mutter, stärker konturiert, aber nicht freundlicher die Großeltern in Sofia, die längst Verstorbenen der Stuttgarter Bulgarenclique. Szenen der Kindheit vermengen sich mit den Geschichten der heutigen Balkanfahrer, umkreisen den Kopf wie ein Mückenschwarm. „So flüchtig sich dieser Schwarm mal mehr in der Nähe, mal in der Ferne hielt, so stereotyp war das Dekor, aus dem die Erinnerten hervorgingen, um sich mit Hilfe der Wörter, mit denen wir sie drapierten, eine Weile zu behaupten.“
Man könnte den Bildern mit Liebe begegnen, mit Nachsicht und Verstehen, vielleicht sogar mit leiser Trauer und Melancholie, doch Sibylle Lewitscharoffs „Ich“ verklärt nicht, versöhnt nicht – es rechnet ab. Die namenlose Ich-Erzählerin, ganz aufsässige Tochter, bleibt, kraftvoll und wortmächtig gegen die Bilder ankämpfend, verharrend in kindlicher Wut. Wir werden sie nicht in die Arme nehmen, ihr nicht zustimmen im Groll, allerhöchstens nur wissend schweigen wie die ältere Schwester und geduldigen Langmut beweisen wie Rumen. Während diese die letzten Tage bis zum Rückflug nach Deutschland ihre frisch aufblühende Verliebtheit leben, bekräftigt die Jüngere ihre Entschlossenheit: „Ich aber bewahre kühlen Mut ... Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Hass.“
Literaturangaben:
LEWITSCHAROFF, SIBYLLE: Apostoloff. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 248 S., 19,80 €.
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