Werbung

Werbung

Werbung

Ohne Happy-Ends – Elmar Schenkel über den großen Erzähler Joseph Conrad

Eine Biografie über den Meister der frühen Moderne

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 27.05.08

 

Der Sohn polnischer Landedelleute aus der Ukraine hatte ein wechselvolles Leben. Als er fünf Jahre alt war, wurde sein Vater wegen Beteiligung an einem Aufstandsversuch nach Sibirien verbannt, wohin ihn die Familie begleitete. Die Mutter starb in der Verbannung, der Vater kurz nach der Freilassung. Conrad wuchs bei seinem Onkel Tadeusz Bobrowski in Krakau auf und ging 1874 zur Marine nach Marseille, vier Jahre später zur britischen Handelsmarine. Die Liebe zum Meer sollte ihn sein Leben lang begleiten und wurde zu einem zentralen Motiv seines Schreibens. 1886 erwarb er die britische Staatsangehörigkeit und wurde Kapitän. Während seiner Seemannszeit bereiste er u. a. den Kongo, Südafrika und Australien. 1893 gab Conrad seinen Beruf nach schwerer Krankheit auf und lebte fortan als freier Schriftsteller in England. 1895 veröffentlichte er mit „Almayers Wahn“ seinen ersten Roman. Viele seiner Romane und Kurzgeschichten spielen an exotischen Schauplätzen, die er aufgrund seiner Reiseerfahrungen besonders anschaulich zu schildern wusste. Nicht selten müssen seine Protagonisten sich am Rand der Zivilisation behaupten, sei es im Dschungel in „Herz der Finsternis“ (1899), auf hoher See in der Erzählung „Der Nigger von der ‚Narcissus’“ (1897) oder auch wie in „Der Geheimagent“ (1907) im Dickicht der Großstadt. Obgleich er Englisch erst als Erwachsener erlernte, schrieb Conrad ausschließlich in dieser Sprache und brachte es darin zu einer Meisterschaft des Stils.

Elmar Schenkel, Professor für englische Literatur an der Universität Leipzig, hat eine neue Biografie über diesen großen Erzähler der frühen Moderne geschrieben. „Die vorliegenden biografischen Annäherungen sind Versuche, die Themen Conrads zu umkreisen: die See, die Sprache, das Schreiben.“ Annäherungen und Umkreisungen, so nennt der Autor die „Bewegungsmuster“ seines Buches. Er präferiert also nicht so sehr das lineare Erzählen von der Geburt bis zum Tod, sondern – ganz im Sinne der Methode Conrads, der „nachgeschobene Erklärungen“, „Wendungen in die Vergangenheit“ wie „“zeitliche Sprünge“ überhaupt bevorzugte – das Arbeiten mit Vergleichen und Sprüngen von hinten nach vorn, mit Rückblicken, Seitenblicken und Vorausblicken, beim Suchen nach Ursprung, Beziehungen und Mustern. Ein weiteres Charakteristikum dieser Biografie besteht darin, dass den kontinentalen Verbindungen Conrads nachgegangen wird. Schenkel hält Conrad für „einen Vorläufer des neuen Europa, zugleich auch für den ersten Autor, der die Natur der Globalisierung erfasste – vom Kolonialismus bis zum Terrorismus“.

Zwei Seelen – so der Biograf – wohnen in Conrads Brust, der Romantiker und der Realist, der Vater und der Onkel. Und bereits dessen erstes Werk „Almayers Wahn“ trug diesem Konflikt zwischen Traum und Realität Rechnung. Die Verzweiflung hat Conrad sein Leben lang angefochten und er brauchte ein Gegenbild in Gestalt seines Onkels Tadeusz Bobrowski, der immer wieder seine nüchterne Lebensphilosophie eingesetzt hat um den Neffen auf den rechten Weg zu bringen. Wie aber beginnt ein Mann, der seit mehr als zehn Jahren zur See fährt, mit 32 Jahren einen Roman in einer Sprache zu schreiben, die nicht seine Muttersprache, sondern nach Französisch seine dritte Sprache – Englisch – ist? Und er kann ja nur schreiben, wenn es ihm die Zeit erlaubt, auf den verschiedensten Schiffen, Meeren und Kontinenten, in Seemannsheimen und Pensionen, auf Inseln und in fremden Städten. Das hat bei Conrad zu diesem Prinzip der Unterbrechung geführt – als dem Prinzip seines Erinnerns und Schreibens. Die Zeitebenen durchschneiden einander, lange Rückblicke werden kurz nach Einsetzen der Romane gehalten. Während Conrad seinen Auftrag, auf der „Adowa“ Auswanderer nach Kanada zu bringen, nicht erfüllen konnte, weil keine Auswanderer erschienen, seine letzte Reise also nicht stattfand, „arbeitete er an einer Überfahrt in ein anderes Land, das der Wörter“, so der Biograf. Warum rettete ihn das Schreiben und wovor rettete es ihn?

Conrads erster Roman „Almayers Wahn“, der den schrittweisen Abstieg und moralischen Verfall eines holländischen Handelsvertreters im tropischen Borneo schildert, ist ein Roman über die Erinnerung und das Vergessen. Ist dieser Almayer nicht ein Don Quijote im Dschungel, so wie Conrad sich selbst gern als Ritter von trauriger Gestalt sah? Aber keiner der Romane „lässt sich als direktes Abbild lesen, alle sind verstellt, übermalt, verzerrt, in allen glimmen Erinnerungen an Conrads Leben, doch nur von ferne, undeutlich und oft irreführend“. Der Dschungel ist in diesem Roman zur Opernbühne geworden, Conrad liebte Opern, vor allem Verdi, und opernhafte Szenarien lassen sich überall in seinen Werken finden.

Conrads warmherzige Beziehung zu der neun Jahre älteren Schriftstellerin Marguerite Poradowski war zeitweise ein Anker für den ruhelosen Seemann und werdenden Autor. 1893 lernte er seine künftige Frau Jessie George kennen. Sie hat nach dem Tode ihres Mannes zwei Erinnerungsbücher über ihn veröffentlicht. „Mit Jessies Blick allein wird man Conrad nicht erklären können, aber der Blick nimmt den Alltag, die Körperlichkeit und die menschliche Beziehung auf und führt von der Verklärung des Genies zu einer der Realitäten, aus denen diese großen Bücher wuchsen“, schreibt Schenkel. Diese von vorherigen Biografen immer ein wenig abfällig beurteilte Frau hat Conrad Halt und Verankerung in der Welt des Alltags gegeben; es hat ihr zwar an Bildung gefehlt, aber dafür besaß sie etwas, was ihrem Mann abging: Bodennähe und Common Sense. Sie hat seine Frustrationen als erste ertragen müssen, wenn es bei ihm im Schreiben nicht weiterging, und dann erst recht, als seine Krisen sich zur psychosomatischen Krankheit auswuchsen und in Gicht- und Rheumaanfällen, im oftmaligen Rückzug von der Familie übergingen. Auch die amerikanische Journalistin und Autorin Jane Anderson, die 1915 als Kriegskorrespondentin in London arbeitete, inspirierte Conrad, brachte aber zugleich Spannungen in seine Ehe und Familie. Diese schillernde Femme fatale wird dann 1919 in seinem Roman „Der goldene Pfeil“ wiederkehren, und zwar in mehreren Gestalten. Später hat sie Propagandatätigkeit für die spanischen und für die deutschen Faschisten geleistet, bis sie dann auch für die Nazis zu einer Belastung wurde.

Im Winter 1889 nahm Conrad das Angebot einer belgischen Handelsfirma an, einen Flussdampfer auf dem Kongo zu führen, und verbrachte fast acht Monate in Afrika. Der Traum, den er im Kongo verlor, war kein individueller von Lebenserfüllung oder Erfolg, schreibt Schenkel, sondern der Traum vom guten Menschen. „Herz der Finsternis“ ist Conrads erster großer Angriff auf den Kolonialismus, die brutale Ausbeutung und Misshandlung der Schwarzen durch die Weißen. Auf einem Boot an der Themsemündung erzählt Kapitän Marlow in einer langen Rückblende von seiner Reise ins Innerste Afrikas, immer weiter fort vom Licht der Zivilisation in die Dunkelheit der Wildnis, in das „Herz der Finsternis“ und zum Zentrum des Bösen, in dem der Elfenbeinagent Kurtz sein Reich eingerichtet hat, das er skrupellos ausbeutet. Diese Kolonialreise ist auch eine Seelenreise, eine Reise ins Unbewusste, denn je weiter Marlow zu Kurtz vordringt, erkennt er seine Verwandtschaft, ja möglicherweise seine Identität mit diesem dem Größenwahn verfallenen Kurtz, der dem Innersten vorsteht. Marlow erlebt Kurtz’ Sterben, und seine letzten Worte lauten: „The horror!“ Er soll dieses Vermächtnis des großen Kurtz der trauernden Verlobten in Brüssel überbringen, behauptet ihr gegenüber aber, Kurtz habe am Ende ihren Namen ausgesprochen. Damit erhält Marlow nicht nur das private Scheingebäude Kurtz’, sondern auch das des wohltätigen Kolonialismus überhaupt aufrecht.

Conrads Orte sind angelegt wie seine Figuren, transparente Überlagerungen und Überschichtungen unterschiedlicher Herkunft: aus der Erinnerung, aus Büchern oder Zeitungen, aus dem Bekanntenkreis, aus Erzähltem und Gehörtem. Es handelt sich um Palimpseste, Wiederverwendetes, übereinander Geschriebenes, Gelöschtes und Neubeschriebenes. So auch die literarische Insel Borneo seines Romans „Lord Jim“, die nur teilweise mit dem realen Borneo übereinstimmt. Der junge Seeoffizier Jim erliegt einem kurzen Moment der Feigheit und desertiert mit dem deutschen Kapitän, einem üblen Halunken, von seinem leckgeschlagenen Schiff, wodurch er Beruf und Ehre verliert, die er schließlich auf der malaiischen Insel Borneo zurückzugewinnen sucht. Conrad bricht auch hier die lineare Erzählordnung auf und führt einen Erzähler ein, den deutschen Emigranten Stein, der Jim nicht nur diesen von der Weltgeschichte versteckten Ort, sondern auch sein fragmentarisches Wissen über die Figuren des Romans anbietet, die alle miteinander im Wechselverhältnis zu stehen scheinen. Die Figuren spiegeln einander, Marlow, der erfahrene Seemann, den wir schon in „Herz der Finsternis“ kennengelernt haben, spiegelt Jim, Jim spiegelt Stein usw., „es ist wie in einem Spiegelkabinett eine Welt der Echos“. Schenkel hat sich dabei noch einmal auf die Suche seines Vorgängers, des britischen Reiseautors Gavin Young, begeben, der als das reale Vorbild für Jim den Ersten Offizier auf dem britischen Schiff „Jeddah“, Augustine Podmore Williams, ermittelte und dessen Geschichte Conrad wohl in Singapur gehört haben wird. Aber dieses Williams hat sich Conrad nur in der ersten Hälfte des Romans bedient, für die zweite Hälfte hat er andere Figuren und Ereignisse verwendet.

Elmar Schenkel geht nicht nur den Seemannsreisen Conrads in andere Kontinente und ferne Länder nach, er beschreibt ausführlich dessen Leben als Schriftsteller in England, seine Liebe zu Frankreich, auch die Freundschaft mit André Gide, das Verhältnis Conrads zu Polen, auch die Spiegelungen seines Werkes in Deutschland. Conrad hat selbst in einem Interview 1914 einem polnischen Journalisten gesagt, er sei zwar ein englischer Schriftsteller, aber die englischen Kritiker würden in seinem Werk immer wieder auf etwas Fremdes stoßen, für das sie keinen Namen hätten. Nur Polen könnten dieses undefinierbare Etwas begreifen, und das sei polskosc, sein Polentum. Und dieses polnische Wesen habe er aus den Werken von Mickiewicz und Slowacki geschöpft. Als englischer Autor polnischer Herkunft hat Conrad doch auf Grund seiner Vergangenheit eine besondere Stimme in die englische Literatur hineingebracht. Seine zentrale Stellung in der englischen Literatur erreichte er, so Schenkel, „durch die Tangenten seines Lebens, die eine Außenperspektive auf die neue Kultur mit einschlossen“.

Gleichzeitig mit dieser beziehungsreichen, fesselnd geschriebenen Biografie sind im S. Fischer Verlag die 1902 in einem Band vereinten Erzählungen „Jugend“, „Herz der Finsternis“ und „Das Ende vom Lied“ erschienen, die Conrad damals bekannt gemacht haben. In einer neuen Übersetzung von Manfred Allié wird der Sprache des Autors eine ungeheure Strahlkraft verliehen, obwohl der Übersetzer sich streng an die englische Vorlage gehalten hat. Die Conradschen Figuren bleiben in ein Geheimnis gehüllt, dessen Faszination die Spannung, die in der konventionellen Erzählung durch die Neugier auf den Fortgang der Handlung geschaffen wird, mehr als aufwiegt.

„Jugend“ gibt eine Episode aus Conrads Seefahrerleben, seine erste Fahrt in den Fernen Osten, wieder. Durch den Mund seines Erzählers Marlow – neben ihm treten nur wenige Personen auf – konnte er eigene Erfahrungen verwenden, ohne sie als solche kenntlich zu machen. Diesen Kapitän Marlow mit seinem Schatz von Seemannserinnerungen hat Conrad dann über ein Dutzend Jahre hinweg immer wieder in wechselnden Rollen in einer Reihe von Erzählungen und Romanen eingesetzt. Es handelt sich hier um eine Seereise – „eine Seegeschichte ohne Kopf und Fuß“ nannte sie Conrad –, die mit einer Katastrophe endet. Das Schiff brennt lichterloh, die Mannschaft kann sich retten und erreicht in ihren Booten schließlich Land. Die ganze Erzählung ist von einem Gefühl lähmender Bewegungslosigkeit, von der Sinnlosigkeit allen menschlichen Tuns und Mühens durchdrungen. In „Herz der Finsternis“ geht es nicht so sehr darum, was Menschen tun, sondern warum sie es tun und was sie dabei fühlen und denken. Wieder bildet hier Marlow mit einem Kreis vertrauter Zuhörer den Rahmen und berichtet als Hauptgestalt in der ersten Person. In dem Maße, wie er selbst in die moralische Tragweite der Dinge verstrickt wird, entfaltet er vor unseren Augen eine Landschaft der Seele. Es gibt Querbezüge und -deutungen, die nach rückwärts und vorwärts das Ganze wie ein Netz überspannen und es zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammenknüpfen. Als dritte Erzählung war ursprünglich „Lord Jim“ für diesen Band von 1902 geplant, sie war aber dann zu einem eigenständigen Roman geworden. Außer „Das Ende vom Lied“ hatte Conrad damals nichts mehr zur Verfügung und so dehnte er diese Erzählung, nicht gerade zu deren Vorteil, auf die von seinem englischen Verleger geforderte Länge aus. Doch die Schauplätze des Geschehens – Land, Küsten, Schiffe –, eine erstaunliche Anzahl von Menschen und vor allem deren unterschiedliche Bewusstseinszustände und Lebensauffassungen gewinnen hier überzeugend Gestalt. Die Menschen verschiedenartiger Herkunft und Prägung – von Weiß bis Braun – verstehen einander nicht und sind zur Einsamkeit mit sich selbst verdammt. Hier ist es der holländische Skeptiker van Wyk, der stellvertretend für den Autor spricht und dem Leser durch seine Bewertung der Dinge einen orientierenden Standpunkt verschafft.

Literaturangaben:
CONRAD, JOSEPH: Herz der Finsternis. Jugend. Das Ende vom Lied. Erzählungen. Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 377 S., 19,90 €.
SCHENKEL, ELMAR: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 368 S., 24,90 €.

Verlag

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: