London, Baker Street 221 B. Hier logiert Dr. med. John H. Watson, ehemals Feldarzt des britischen Heeres, zusammen mit einem außergewöhnlichen, zuweilen exzentrischen Zeitgenossen: Sherlock Holmes. „Er war mehr als 180 m groß und überschlank […]. Seine Augen […] waren scharf und durchdringend. Seine dünne Adlernase gab seinem Profil den Eindruck von Aufmerksamkeit und Entschlossenheit.“ Seine Attribute: Pfeife und Vergrößerungsglas, seine Passion: die Wissenschaft von der Deduktion, sein geistiger Vater: der Augenarzt und Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930).
Mit 28 Jahren, 1887, veröffentlichte der umtriebige Schotte die erste Geschichte: „A Study in Scarlet“ (dt. „Eine Studie in Scharlachrot“). 1890 zog er von Southsea bei Portsmouth nach London, schon ab 1891 konnte der Erfinder Sherlock Holmes’ seinen Lebensunterhalt durch die Schriftstellerei bestreiten. Vier Romane und 56 Kurzgeschichten machten Dr. Watson und Sherlock Holmes zu den wohl bekanntesten Figuren der Krimigeschichte. Der Meisterdetektiv, ausgestattet mit Eigenschaften des Edinburgher Arztes (und Lehrers Conan Doyles) Joseph Bell, wurde nicht nur weltberühmt, sondern zu einem Symbol analytisch-rationalen Denkens und wegweisend für eine neue, junge Disziplin: die Forensik.
„Die Wissenschaft bei Sherlock Holmes und die Anfänge der Gerichtsmedizin“ nennt E. J. Wagner ihr Buch, das 2007 mit dem „Edgar Allen Poe Award“ ausgezeichnet wurde. Spannend verwebt die Kriminalhistorikerin authentische Gerichtsfälle der viktorianischen Epoche mit den fiktiven der Sherlock-Holmes-Geschichten und beweist: Der kühl und emotionslos schlussfolgernde Detektiv war nicht nur den Ermittlern von Scotland Yard immer eine entscheidende Spur voraus, sondern oft auch seiner Zeit. Er identifiziert Gifte und menschliches Blut, ermittelt anhand von Fußspuren und Fingerabdrücken. Und es kann vorkommen, „dass er mit Stockhieben auf die Leichen im Anatomiesaal einprügelt, […] um sich zu vergewissern, ob man jemandem blaue Flecken und Wunden noch nach dem Tode beibringen kann“.
Sherlock Holmes geht es um die exakte Anwendung der Naturwissenschaften in kriminalistischen Ermittlungen. Sicher, eine gewissenhafte Spurensicherung, die Arbeit im Blutgruppenlabor und am DNS-Sequenzer lagen noch in ferner Zukunft, aber einige fortschrittliche, in Anatomie, Pharmazie und Mikroskopie beschlagene Ärzte begannen bereits, ihre Fähigkeiten zur Untersuchung plötzlicher Todesfälle einzusetzen. So wie besagter Joseph Bell (1837-1911), Anatomiegelehrter und Chirurg, der in seinen Vorlesungen die Wichtigkeit von genauen Beobachtungen propagierte und gerne auch mal von Scotland Yard konsultiert wurde, unter anderem 1888, als „Jack the Ripper“ in London sein viertes Opfer massakrierte.
Das Vergrößerungsglas des Sherlock Holmes steht für eine Zeit des Aufbruch und des Wandels, nicht nur bei den kriminaltechnischen Methoden, sondern auch im Denken. Mit Wissenschaftsoptimismus und Wahrscheinlichkeitslogik geht’ s auf Verbrecherjagd. „Aus einem Wassertropfen könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantik oder Niagara schließen, ohne von ihnen gehört zu haben“, lautet Holmes’ Credo. „Wie oft habe ich Ihnen schon erklärt, dass Sie lediglich all das, was unmöglich ist, auszuschließen brauchen, und was dann übrig bleibt, mag es auch noch so unwahrscheinlich sein, muss die Lösung sein“, belehrt der Meisterdetektiv seinen Freund und Schüler Dr. Watson in „Das Zeichen der Vier“.
Doch auch ein Conan Doyle irrt zuweilen, so wie die Wissenschaftsgeschichte nicht frei von Fehlschlüssen ist. Sherlock Holmes konsumiert noch bedenkenlos Morphium und Kokain, das Suchtpotenzial dieser „Genussgifte“ wurden erst später bekannt. Auf dem Gesicht einer Leiche scheint unserem Meisterdetektiv „ein Ausdruck des Grauens festgefroren“, obwohl sich im Moment des Todeseintritts alle Muskeln, auch die des Gesichts, entspannen. Wie viele zeitgenössische Forscher und Ärzte übernimmt Sherlock Holmes, ganz Geisteskind seiner Epoche, die pseudowissenschaftlichen Ansätze der Phrenologie zur Erklärung des Charakters und der moralischen Gesinnung. Nun, er konnte es nicht besser wissen, wir, hundert Jahre später und im Zeitalter von „CSI“, „Crossing Jordan“ und „Der letzte Zeuge“, schon.
Doch wie auch immer: Sherlock Holmes sorgt, mit Scharf-, Spürsinn und ungewöhnlichen Methoden, für den Triumph von Fakten und Wissenschaft über Fantasterei und Aberglauben, am augenfälligsten im hochdramatischen „Der Hund der Baskervilles“. Weder Höllenhunde noch Vampire oder Hexen kommen als Täter in Betracht, dafür hinterlassen genügend stumme Zeugen verräterische Spuren: Aus Papierfetzen, winzigen Partikeln von Stoffen, Gewebe oder Blut, Schmauchspuren und Fingerabdrücken am Tatort lässt sich der Tathergang (zumeist) exakt rekonstruieren, zwar nicht à la Sherlock Holmes, aber mit modernen kriminaltechnologischen Verfahren.
Dass es im ausgehenden 19. Jahrhundert ganz anders aussah und die Ermittler (zu) oft im Dunkeln tappten, veranschaulicht E. J. Wagner anschaulich und äußerst spannend. „Jack the Ripper“ wurde bekanntlich nie gefasst, viele Mordfälle nicht gelöst – oder aber Unschuldige hingerichtet. Der größte Feind aller Ermittler aber, und das macht die Autorin immer wieder deutlich, waren Vorurteile, Aberglauben und Mythen, tief verwurzelt und gebunden an die Angst vor dem Unheimlichen und dem (gewaltsamen) Tod. Da brauchte es schon viel Überzeugungsarbeit und das furchtlose Anpacken der Pathologen, Chemiker und Biologen, um eine Disziplin zu begründen, die zwar nicht piekfein ist, es aber dank attraktiver Gerichtsmediziner und Serien wie „Quincy, M.E.“ auf die Fernsehbildschirme geschafft hat.
Literaturangaben:
WAGNER, E. J.: Die Wissenschaft bei Sherlock Holmes und die Anfänge der Gerichtsmedizin. Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2008. 234 S., 14,95 €.
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