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Vom Leben an sich

Eindrücke und Erinnerungen an „Ein Land, genannt die DDR“

Von: MARTIN SPIESS - © Die Berliner Literaturkritik, 09.09.05

 

 

Die Äußerung von Brandenburgs Innenminister Schönbohm über die ostdeutsche Mentalität hat es gezeigt: Mit der Wende kam zwar die deutsche Einheit, aber allenfalls auf dem Papier. Vorurteile und Vorbehalte sind nach wie vor, immerhin fünfzehn Jahre später, an der Tagesordnung. Dass ein bestialischer mehrfacher Kindermord wie der der 39-jährigen Sabine H. aus Frankfurt/Oder mit den Verhältnissen in der ehemaligen DDR in Verbindung gebracht wird, muss als mehr als nur unglücklich bezeichnet werden.

Und doch zeigt es, dass immer noch nicht hergestellt ist, wonach sich viele deutsche Bürger in Ost und West über vierzig Jahre lang gesehnt haben: eine deutsche Einheit. Und es zeigt, dass die DDR noch relativ unverarbeitet auf dem Feld der Geschichte liegt. Oder wenn verarbeitet, dass diese Verarbeitung nicht in die Köpfe der Menschen übergegangen zu sein scheint.

Sensibilität und Zorn

Gut also, dass Ulrich Plenzdorf und Rüdiger Dammann das Buch „Ein Land, genannt die DDR“ herausgegeben haben. Sechs Autorinnen und Autoren, fünf von ihnen aus der DDR, erzählen darin ihre Geschichten vom Leben in und mit der DDR. Dabei wird kein Aspekt der DDR ausgelassen: Es geht von der Geschichte der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg über Stalins Tod und Kindheit in der DDR, die Bespitzelung durch die Stasi, die Wirtschaft der DDR, Fluchtträume und -versuche bis schließlich zur Wende.

Immer kritisch erzählen die Autorinnen und Autoren von ihren Erlebnissen: von Gedanken und Gefühlen, von Freude und Verzweiflung. Da wird, wie im Fall von Holde-Barbara Ulrich, Jahrgang 1940 und zu DDR-Zeiten Chefreporterin der einzigen Frauenillustrierten „Für Dich“, eine junge Familie getrennt und alle Ausreiseantragsbemühungen gehen ins Leere. Erich Loest, Jahrgang 1926 und wegen Kritik an der SED für siebeneinhalb Jahre in Haft, schreibt über die jahrelange Bespitzelung durch einen seiner engsten Freunde.

Mit Sensibilität und Zorn beschreiben die Autorinnen und Autoren, wie sie fassungslos vor unerträglichen, aber auch unumstößlichen Wahrheiten stehen, die sie sich genauso wenig zu akzeptieren im Stande sehen wie der Leser, dem es bei der Lektüre Tränen der Empörung in die Augen treibt, treiben muss. Durch die Geschichten entsteht zwar das altbekannte Bild des diktatorischen Unrechtsstaates. Aber immer wieder taucht in den Texten die Tendenz auf, zwischen der Kritik am politischen System und den von ihm korrumpierten Menschen und dem Leben an sich zu unterscheiden.

Die DDR in den Köpfen

Doch stellt sich da die Frage, inwieweit man in einer Diktatur von einem „Leben an sich“ sprechen kann, wo doch alle Lebensbereiche von einem totalitären System durchzogen sind. Ulrich Plenzdorf, Mitherausgeber von „Ein Land genannet die DDR“ und Autor des Erfolgsbuches „Die neuen Leiden des jungen W.“, stellt sich in seinem Nachwort diese Frage nicht. Er warnt vor „reflexartigen Schlagworten“, die in Zusammenhang mit der DDR fallen: Unrechtsstaat, Stacheldraht, Mauertote, SED-Regimes und andere. Diese würden, so sagt er, wenig über das „wirkliche Leben in der DDR“ erzählen.

Doch da geht er fehl. Denn die Autorinnen und Autoren erzählen von ihrem wirklichen Leben. Und das war (und ist) nun mal bestimmt durch diesen Unrechtsstaat und seinen Stacheldraht, seine Mauertoten, durch das SED-Regime und das Fehlen bestimmter Konsumgüter. Auch wenn sie vor diesem Hintergrund glückliche Momente erlebt haben.

Plenzdorfs Nachwort beweist genauso wie Schönbohms „verbale Entgleisung“, dass die DDR unverändert in den Köpfen vieler Menschen ist: ob nun in Ost oder West, ob nun Zeitzeugen oder nach 1989 Geborene. Gerade diese Tatsache macht „Ein Land, genannt die DDR“ so wichtig. Weil es auf umfassende Weise die Geschichte eines Landes erzählt, das eine Mauer um sich herum bauen musste, damit ihm sein Volk nicht davonlief. „Menschen in Deutschland“, möchte man sagen, „kauft dieses Buch und lest es. Herr Schönbohm, Sie bitte auch.“

Mehr:   Ein verlorenes Land (Kurzvorstellung)

Literaturangaben:
PLENZDORF, ULRICH / DAMMANN, RÜDIGER (Hrsg.): Ein Land, genannt die DDR. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 208 S., 19,90 €.

Martin Spieß, diplomierter Kulturwissenschaftler, lebt und arbeitet als freier Autor im Wendland. Er ist einziges Mitglied der Gitarrenpopband VORBAND


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