Pünktlich zu ihrem 125. Geburtstag (25. Januar 2007) hat der S. Fischer Verlag den Liebhabern der vielleicht bedeutendsten englischen Autorin des 20. Jahrhunderts ein sehr schönes Geschenk gemacht. Erstmals erscheint in deutscher Sprache eine umfangreiche Sammlung der Briefe Virginia Woolfs (1882-1941), angefangen mit den frühkindlichen Versuchen der Sechsjährigen im Jahre 1888, bis hin zu den Abschiedsbriefen kurz vor ihrem Freitod im März 1941.
Herausgegeben und kommentiert werden sie von Klaus Reichert, übersetzt von Brigitte Walitzek. Die Auswahl orientiert sich an der sechsbändigen englischen Ausgabe „The Letters of Virginia Woolf“, die bereits zwischen 1975 und 1980 erschien.
Eine besondere Hilfe bieten die kommentierenden Fußnoten, aus dem Original übernommenen und ins Deutsche übertragen, die viele Details und Anspielungen aus der Korrespondenz erhellen und erst verständlich machen. Im Gegensatz zu Woolfs Essays und Rezensionen (jahrelang ihre wichtigste finanzielle Einnahmequelle) und erst Recht im Gegensatz zu ihren Romanen, an deren kräftezehrenden Arbeit sie häufig verzweifelte, waren ihr die Briefwechsel mit Freunden, Verwandten oder Bekannten äußerst wichtige schöpferische Erholungspausen.
Tatsächlich verging wohl kaum eine Woche im Leben der erwachsenen Literatin, in der sie sich nicht ihrer Korrespondenz widmete. Etwa 4.000 ihrer Briefe sind erhalten, eine immense Anzahl, von der immerhin ein gutes Drittel in ungekürzter Form in der zweibändigen deutschen Ausgabe vorliegt.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist Virginia Woolf vermutlich bis heute vor allem die introvertierte Intellektuelle, äußerst sensibel und unter ständigen Depressionen leidend. Ein Bild, das zum Beispiel auch durch den an ihr Leben angelehnten Kinofilm „The Hours“ mit Nicole Kidman in der Hauptrolle gestützt wird.
Auch wenn ihr Suizid natürlich unbestreitbar Ausdruck großer seelischer Krisen war, von denen Virginia Woolf in ihrem Leben mindestens vier erleiden musste, ist der Charakter, den uns ihre Briefe vermitteln, doch weitaus komplexer. Hier begegnet uns ein Mensch, der ganz im Gegensatz zur gängigen Vorstellung in guten Zeiten vor Lebensenergie und auch Komik nur so sprühte.
Häufig äußerte sich ihr Humor in ironischen Bemerkungen über gemeinsame Bekannte. So schreibt sie über Ethel Smyth, einer resoluten alten Kämpferin für die Sufragettenbewegung: „Ethels neuer Hund ist tot. Die Wahrheit ist, daß kein Hund der Anstrengung gewachsen ist, mit Ethel zusammenzuleben. Ich war einen Tag dort und fand ihn am Rande eines Nervenzusammenbruchs, einfach davon, daß er ihrer Unterhaltung zuhörte.“
Ihre charakterisierenden Personenbeschreibungen sind oftmals von einer sarkastischen Schärfe, die das Lesen zu einem Vergnügen macht. Über eine entfernte Bekannte bemerkt sie, sie habe „eine Leere in den Augen, die genau der einer Kröte entspricht, die sich an großen Motten überfressen hat.“ Eine etwas kapriziöse Frau aus ihrem Bekanntenkreis vergleicht Woolf mit einem „armen alten Geflügel im Delirium.“
Die Lust an Klatsch und Tratsch und an spöttelnden Seitenhieben begegnet dem Leser immer wieder. Er kommt stets geschliffen daher, gekennzeichnet von einem metaphorischen Einfallsreichtum, der keinen Zweifel daran lässt, dass die Autorin sich mit großer Freude mit anderen Personen austauschte. Das waren Menschen aus ihrer persönlichen Umgebung, aber auch flüchtige Bekannte, mit denen sie einen erstaunlich persönlichen, einfühlsamen Stil pflegte.
Einige ihrer schönsten Briefe sind an den französischen Maler Jacques Raverat gerichtet, der an Multipler Sklerose litt und den sie eigentlich nie besonders gut gekannt hatte. Aber auch ihr Verhältnis zu Personen, denen sie bekanntermaßen sehr nahe stand, wird durch ihre Korrespondenz erhellt. Zum Beispiel anhand des leidenschaftlichen, teils hoch amourösen Briefwechsel mit der (zunächst nur platonischen) Geliebten Vita Sackville-West, die Ende 1922 in ihr Leben trat. Vita wurde jahrelang zur wohl engsten Vertrauten und diente als Inspiration für Virginia Woolfs erfolgreichstes Werk: die fiktiven Biographie „Orlando“.
Erstaunlich wenig erfahren wir über die Schaffensprozesse ihrer Romane, auch wenn bekannt ist, dass ihre schöpferische Zeit stets mit Qualen verbunden war. Höchst beiläufig, wenn überhaupt, erwähnt sie dann und wann in einem Nebensatz, dass sie gerade an einem neuen Buch arbeite, aber das ist auch schon alles. Erst wenn ein Werk veröffentlicht ist und sie angstvoll die Reaktion der Öffentlichkeit erwartet, ist sie bereit, darüber zu schreiben. Dies geschieht oftmals abfällig und voller Minderwertigkeitsgefühle, die kaum ausschließlich Koketterie sein dürften.
Einem alten Verehrer offenbart sie in einem Brief aus dem Jahr 1938, „Jacobs Zimmer“ (veröffentlicht 1922) sei „das einzige meiner Bücher, von dem ich gelegentlich ohne Abscheu eine Seite lesen kann.“ So selbstlos und ausgesucht bescheiden das auch klingt, war Virginia Woolf keineswegs frei von Eitelkeiten und insbesondere neidvoller Missgunst anderen zeitgenössischen Autoren gegenüber, für die sie in großer Mehrzahl gar nichts übrig hatte.
Legendär ist ihre abfällige Meinung über James Joyce, dessen „Ulysses“ in den zwanziger Jahren für eine literarische Sensation sorgte. Virginia Woolf schreibt dazu 1922 in einem Brief an eine Freundin: „Jetzt lese ich Joyce, und mein Eindruck, nach 200 von 700 Seiten, ist, daß der arme junge Mann sogar im Vergleich mit George Meredith nur den Bodensatz eines Gehirns besitzt.“ Wenn Virginia Woolf einen Autor schätzt, etwa Henry James oder Marcel Proust, so ist es zumeist kein Zeitgenosse.
Virginia Woolfs Briefe lassen nur sehr spärlich Rückschlüsse auf ihr poetologisches Prinzip oder ihre sprachliche Intention zu. Der feste Glaube an die Notwendigkeit einer modernen Erneuerung der Literatur, eines sprachlichen Beschreitens neuer Wege, taucht hier und da in ihren Ausführungen auf. Er ist jedoch nur von untergeordneter Bedeutung, wenn sie mit ihren Freunden und Bekannten kommuniziert.
Es sind die kleinen Momente, der Tratsch, gesellschaftliche Anekdoten, aber auch persönliche Gefühle, Trauer und Glück, die ihren Briefen einen Reichtum verleihen.
So entwickelt sich ein facettenreicher gedanklicher Austausch mit ihren Mitmenschen über die großen und kleinen Dinge des Lebens, der über das Kennenlernen der privaten Virginia Woolf hinaus auch einen Blick auf ihre Epoche ermöglicht.
Vielleicht, könnte man ironischerweise konstatieren, ist der arg geschmähte James Joyce doch nicht so fern, wenn Virginia Woolf sich gerade auf die beiläufigen Augenblicke, flüchtige Gesten und lapidare Vorkommnisse konzentriert. Denn darin findet sie – Joyces literarischem Prinzip der Epiphanie folgend – einen Moment in dem sich der Alltag, ihr Leben, unverhofft und beinahe magisch verdichtet.
Von Dominik Rose
Literaturangaben:
WOOLF, VIRGINIA: Briefe 1. 1888-1927. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 590 S., 39 €.
---: Briefe 2. 1928-1941. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 590 S., 39 €.
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