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Ein Haus als Metapher für eine ganze Stadt

Elif Shafak erklärt in „Der Bonbonpalast“ Istanbul ihre Liebe

© Die Berliner Literaturkritik, 25.07.08

 

BERLIN (BLK) – Im September 2008 erscheint der Roman „Der Bonbonpalast“ der Autorin Elif Shafak über ein Haus in Istanbul bei Eichborn.

Klappentext: Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an Istanbul

Ein Haus als Metapher für eine ganze Stadt: „Der Bonbonpalast“ verwebt kunstvoll die Geschichten der zahlreichen Hausbewohner mit der Geschichte und Gegenwart Istanbuls, einer Stadt zwischen Mystik, Religion und der Kraft der Moderne.

Ein ehemals prachtvolles Haus im Zentrum von Istanbul, gebaut von einem russischen Adeligen für seine Frau, ist der Schauplatz dieses Romans. Inzwischen ist der „Bonbonpalast“ allerdings ziemlich verwittert – und Heimstatt nicht nur für eine, sondern gleich für zehn sehr unterschiedliche Familien. In der Erzählung ihrer Schicksale, Tragödien und Komödien folgt Der Bonbonpalast der Struktur von Tausendundeiner Nacht. In loser Folge und doch aufeinander bezogen werden die Schicksale und Erlebnisse eines zutiefst frommen Mannes, zweier ungleicher Zwillinge, die einen Friseursalon betreiben, eines namenlosen Ich-Erzählers, einer rätselhaften alten Frau, einer charmanten Schönheit und eines Marihuana rauchenden Studenten mit Hund erzählt – und damit die des Gebäudes und der Stadt. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, alles fließt in diesem Roman zusammen, der vor Geschichten nur so sprudelt, Geschichten, die so unglaublich sind und so real wie der Geruch des Hauses, dessen Quelle ganz am Ende an unerwarteter Stelle gefunden wird. (vol/wip)

 

Leseprobe:

© Eichborn Verlag ©

DAVOR GAB ES HIER ZWEI ALTE FRIEDHÖFE: der eine klein, rechteckig und gepflegt, der andere groß, halbkreisförmig und verwahrlost, beide brechend voll und trotzdem verlassen. Sie bedeckten eine ziemlich große Fläche, teilten dieselbe verfallene Mauer und waren von einem efeubewachsenen Zaun und steilen, schattigen Hängen umgeben. Der große gehörte den Muslimen, der kleine den orthodoxen Armeniern. Damit niemand hinüberkletterte, hatte man auf der etwa eineinhalb Meter hohen Mauer zwischen den Friedhöfen verrostete Nägel, Glasscherben und sogar Spiegelstücke gesteckt, ohne sich um den Aberglauben zu kümmern. Die riesigen zweiflügeligen Eisentore zu den beiden Grabfeldern befanden sich am jeweils entgegengesetzten Ende, eines schaute nach Norden, eines nach Süden. Wenn nun einem Besucher eingefallen wäre, den anderen Friedhof zu besuchen, hätte er den „seinen“ verlassen, die Mauer entlanggehen und, je nachdem von welchem Friedhof er kam, hinunter oder hinauf steigen müssen, um schließlich das gegenüberliegende Tor zu erreichen. Doch diese Strapazen musste niemand auf sich nehmen, da kein Besucher mit Angehörigen auf einem Friedhof jemals auf die Idee kam, den anderen Friedhof zu besuchen. Trotzdem gab es Wesen, die Tag und Nacht hinüberwechselten. Der Wind, Diebe, Eidechsen und Katzen kannten alle möglichen Wege, um das Hindernis obenherum, untenherum oder mittendurch zu überwinden. Das blieb nicht lange so. Wegen des ständigen Zuzugs vom Land füllten sich alle Lücken in der Stadt mit Häusern, die von weitem aussahen wie eine Armee Betonsoldaten. Die beiden Friedhöfe wirkten bald wie zwei umbrandete einsame Inseln. Fortwährend wurden neue Wohnhäuser gebaut und ganze Häuserblocks hochgezogen, zwischen denen winzige, verwinkelte Gassen entstanden, die von oben wie Gehirnwindungen aussahen – die Häuser blockierten Straßen, und die Straßen wanden sich zwischen den Häusern hindurch. So wuchs die Stadt und schwoll an wie ein Fisch, der nicht merkt, dass er schon lange satt ist. Kurz bevor der Fisch platzte, musste der geblähte Bauch mit einem scharfen Messer aufgeritzt werden, damit er und die Menschen drinnen wieder atmen konnten. Dieser Schnitt bedeutete, dass bald eine neue Straße nötig war. Durch das wilde Wachstum wurden die Straßen und Gassen bald zu eng, und der Verkehr staute sich wie Abwasser, das an den Ecken und Rändern nicht mehr abfließen kann. Nun musste rasch eine große Straße her, die wie ein Kanal alle Wege miteinander verband und den Verkehr wieder zum Fließen brachte. Als sich die Verantwortlichen jedoch an die Planung der Straße machten und die Gegend aus der Vogelperspektive betrachteten, erkannten sie schnell, dass sie in einer Zwickmühle steckten. Überall dort, wo die Hauptstraße hätte entlangführen können, standen, als hätte sie jemand mit Absicht dorthin gestellt, ein Regierungsgebäude, eine Prominentenvilla oder aber die dicht an dicht gedrängten Häuser einkommensschwacher Familien, die zwar jedes für sich genommen leicht zu beseitigen gewesen wären, insgesamt aber einen aufwändigen Massenabriss erforderlich gemacht hätten. Um die Straße zu bauen, musste ihr also erst einmal ein Weg gebahnt werden.

© Eichborn Verlag ©

Literaturangaben:
SHAFAK, ELIF: Der Bonbonpalast. Roman. Aus dem Türkischen von Eric Czotscher. Eichborn, Frankfurt am Main 2008. 480 S., 19,95 €.

Verlag:


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