BERLIN (BLK) -- Nach dem Wort "Nobelpreis" stockte er kurz. Es folgte "für Reportagen", denn gemeint war der Egon-Erwin-Kisch-Preis. Vielleicht ging dem Verleger Gert Frederking in dieser kurzen Sekunde durch den Kopf, dass er ein wenig zu dick auftrug. Aber die verbalen Lorbeerkränze, die da bereits in den einleitenden Worten für Autor Andreas Altmann geflochten wurden, stimmten das rund 200-köpfige Publikum in der Buchhandlung Lehmann schon mal auf das ein, was da kommen mochte: Altmann ist ein Großer, ein "Mann, dessen Lebenslauf den unseren provinziell erscheinen lässt", vor allem aber ist er ein Mann mit großen Gefühlen.
Und weil ihn diese an einem sonnigen Tag in einem Pariser Straßencafé übermannten, fasste der erfahrene Weltenbummler und Reporter für Geo, Stern und Merian den Plan, zu Fuß und ohne Geld von Paris nach Berlin zu gehen. Eine hübsche Idee, gerade in Zeiten eines zusammenwachsenden Europas mal nicht aus Afrika oder Indien zu berichten wie in Altmanns letzten, sehr erfolgreichen, Reportagebüchern, sondern direkt aus der Nachbarschaft.
"Deutschland kenne ich nicht so gut."
Doch verbindet sich damit auch ein kleiner Haken: Unsere Nachbarschaft kennen wir selbst auch ganz gut. Und so konnte sich so mancher im Publikum ein Schmunzeln nicht verkneifen, als Altmann, der freimütig zugab: "Deutschland kenne ich nicht so gut.", von seinen aufregenden Erlebnissen zwischen Île de France und Brandenburg berichtete. Der Weitgereiste berichtete von einem Marsch auf einer hessischen Landstrasse, auf der ihm ein Mercedesfahrer beinahe die Kniescheiben abfuhr, im selben aufgeregt - empörten Timbre, wie er in "Notbremse nicht zu früh ziehen!" von seinen Eisenbahnfahrten in Indien erzählt hatte. Liegt es an uns, dass wir uns die Gefahren des Alltags nicht mehr bewusst machen, oder ist eine Wanderschaft auf deutschen Landstrassen gar gefährlicher als eine Zugfahrt in Südindien?
Altmann hat sich freiwillig in die Gosse begeben, ist zum Tramp im nostalgisch-verklärenden Sinne geworden, um sich und dem Leser die Augen wieder zu öffnen für eben jene Gefahren, aber auch für die Schönheiten am Wegesrand. Da schwingen große Gefühle mit, die der Reporter nie müde wird, in pathetische Worte zu fassen. So baut er ein literarisches Denkmal für zwei zehnjährige Belgier und ihre Großmutter, die ihn mit Keksen und Limonade aufpäppeln, nachdem er auf einem "Leichenpodest" in ihrem Städtchen gestrandet ist. Immer wieder lobt Altmann den Mut der Einwohner: Wer auch immer an dem Tramper vorbeigehe, niemand habe Angst vor ihm. Er erklärt es sich damit, dass er ein Buch dabei hatte. Kinderschänder lesen keine Bücher, so ihr Glaube, vermutet der Autor.
Possierliche Idylle
Eine possierliche Idylle ist es, die Altmann uns immer wieder vor Augen führt. Zumindest in den verlesenen Kapiteln thematisiert er nicht ein einziges Mal die wahren Gefahren, die auf europäischen Straßen lauern – und die sehen wohl auch belgische Kleinstädter nicht von Obdachlosen ausgehen. Aber 33 Tage auf der Walz reichen wohl für einen wohlgenährten Mitteleuropäer auch nicht aus, um die wahre Not der Obdachlosigkeit zu schmecken. Ein Blick in die Zeitung hätte Altmann vielleicht die Augen dafür geöffnet, dass Obdachlose – mit oder ohne Buch in der Hand – zuweilen von Rechtsradikalen zusammengeschlagen werden. Und die Hoffnungslosigkeit, die ein Leben auf der Strasse mit sich bringt, kann wohl auch niemand nachfühlen, der seine Reise mit einem – immerhin erschnorrten – Glas Champagner bei Borchardt krönt.
Beinahe unerträglich wird es, wenn Altmann – der während seiner Reise höchstens Limo trinkt – den moralischen Zeigefinger ausfährt und darüber schwadroniert, mit welchen Drogen sich die sozial Gescheiterten, die ihm begegnen, vergiften. Warum tun sie dies? Was wollen sie verdrängen? Wen interessiert's. Für den Fall, dass der Reporter gefragt wird, warum er auf der Strasse lebt, hat er sich eine Geschichte geklaut: Von der Frau mit dem Chef betrogen, verlassen und die Hoffnung aufgegeben. Dass genau dies die Ursache ist, weswegen die meisten Männer obdachlos werden – für Altmann anscheinend ein Satz zuviel.
Altmann feiert seine eigene Gewitztheit
Am Ende der Lesung bleibt die Frage, was eigentlich der Sinn von Altmanns Projekt war. Schon in den Achtzigern gab es "Deutschland umsonst" von Michael Holzach, und erst letztes Jahr ist Wolfgang Büscher von Berlin nach Moskau gelaufen – seine Reise hat 82 Tage gedauert. Und für ein aktualisiertes "Ganz unten" (Günter Wallraff) ist Altmanns Reportage zu egozentrisch. So beschleicht den Zuhörer ein ungutes Gefühl, wenn der Autor sich damit brüstet, einem offensichtlich geistig verwirrten Menschen mit einem Trick fünf Euro abgeluchst zu haben. Altmann wird als angesehener Journalist im normalen Leben nicht gerade am Hungertuch nagen. Jedenfalls wird er weniger zu darben haben als die gutmütige ostdeutsche Omi, die ihm fünf Euro in die Hand drückte. Aber immerhin hat der Verlag das Glas Champagner bei Borchardt beglichen...
Man muss nicht sozialkritisch sein, kann man aber. "33 Tage, 34 Nächte" hätte es bestimmt nicht schlecht gestanden. So aber ist es ein Buch geworden, in dem Andreas Altmann vor allem seine eigene Ausdauer und Gewitztheit feiert. Nach einer Stunde wurde das Publikum wieder in die laue Frühlingsnacht entlassen. Ob wohl jemand den Obdachlosen, die ein paar Meter weiter in der Hardenbergstrasse auf dem Bürgersteig hockten, einen Euro gegeben hat?
Literaturangaben:
ALTMANN, ANDREAS: 33 Tage, 34 Nächte. Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld. Frederking & Thaler, München 2004. 224 S., 24 Euro.