Leo Perutz (1882-1957) gehört zu jenen Schriftstellern, die von Zeit zu Zeit wieder entdeckt werden, um dann wieder aus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verschwinden. Er wurde in einer wohlhabenden Prager jüdischen Familie geboren, die 1901 nach Wien umzog, war ein mittelmäßiger Schüler, der es immerhin zuwege brachte, ohne Abitur zum Studium an der Technischen Hochschule in Wien zugelassen zu werden und dort sein Diplom in Versicherungsmathematik zu bekommen. Er arbeitete eine Zeit lang für die „Generali“-Versicherung in Triest, kehrte aber schon bald nach Wien zurück und veröffentlichte 1906 seine erste Erzählung.
Bald wurde er zu einem jener Wiener Literaten, von denen man sprach. Im Ersten Weltkrieg 1915 zum Militär eingezogen, wurde er, 1916 schwer verwundet, als Leutnant im „Kriegspressequartier“ eingesetzt. Sein Aufstieg begann nach dem Krieg, er schrieb in schneller Folge sechs Romane, mehrere Novellen und Filmdrehbücher, hielt Hof im Café Herrenhof und war, trotz seines schroffen Wesens ein beliebter Autor, der mit allen bekannt war, die sich damals mit Literatur befassten. Seit 1918 war er mit Ida Weil verheiratet, hatte drei Kinder mit ihr, ehe sie 1928 starb.
Perutz wandte sich danach okkultistischen Studien zu, seine finanziellen Verhältnisse verschlechterten sich in der Wirtschaftskrise, er versuchte sich, des Geldes wegen, an Theaterstücken, aber nach 1933 wurde der in Österreich stets virulente Antisemitismus auch in Wien akut. Nach dem „Anschluss“ emigrierte er nach Tel Aviv und kehrte erst 1951 nach Österreich zurück – in eine andere Zeit. Das literarische Wien der Vorkriegszeit existierte nicht mehr, er fand zunächst keinen Verleger, erst 1953 erschien der Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“, der im alten Prag spielt. Der fast zehn Jahre jüngere Alexander Lernet-Holenia, mit dem zusammen er in den zwanziger Jahren Theaterstücke verfasst hatte, hielt ihm die Totenrede.
Man muss diese triste Biografie so ausführlich erzählen, weil sie typisch ist für jene Autoren, die – ihrer Qualität ungeachtet – unter die Räder der politischen Geschichte gerieten. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts machte sein Verlag ohne merklichen Erfolg einen neuen Versuch, wenigstens einige seiner Bücher wieder zu veröffentlichen, aber erst seit dem Jahre 2000 beginnt dieser eminente Stilist und Romancier wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit zu kommen. Mit seinem bedeutendsten Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ und den Romanen „Der schwedische Reiter“ und „Der Marques de Bolibar“ ist er wieder auf dem Markt. Nun also mit seinem Bestseller aus dem Jahr 1923: „Der Meister des Jüngsten Tages“.
Kein Anlass, etwas zu verbergen?
Ein Ich-Erzähler, der begüterte Baron Gottfried von Yosch, beginnt die Geschichte so: „Meine Arbeit ist beendet. Ich habe die Ereignisse des Herbstes 1909 niedergeschrieben, jene Folge tragischer Begebenheiten, mit der ich auf so sonderbare Weise verknüpft gewesen bin. Ich habe die volle Wahrheit geschrieben. Nichts übergangen, nichts unterdrückt – wozu auch? Ich habe keinen Anlass, etwas zu verbergen.“
Wenn jemand seine Erzählung so beginnt, beschleicht den Leser der Verdacht, er habe doch etwas zu verbergen. Zunächst sieht alles nach einer Wiener Scharade in Schnitzlers Manier aus. Bei einem Hauskonzert im Hause des am Ende seiner Karriere angekommenen Hofschauspielers Eugen Bischoff verschwindet dieser plötzlich; noch ehe das Brahms-Trio, bei dem Yosch die Geige, ein befreundeter Arzt das Cello und Bischoffs Frau Dina Klavier spielten, beim letzten Satz angekommen war, hatte der Schauspieler das Musikzimmer verlassen und war in den Garten-Pavillon gegangen. Dort finden ihn die Freunde tot: Selbstmord. Dinas Bruder Felix vermutet, dass einige gemeine Bemerkungen Yoschs über Bischoffs desolate finanzielle Situation (seine Privatbank hatte Bankrott gemacht) und seine bevorstehende Entlassung durch das Staatstheater ihn in den Selbstmord getrieben hätten und gibt Yosch zehn Tage Zeit, die Konsequenzen zu ziehen. Der hat also Grund, nach einer anderen Erklärung für Bischoffs Tod zu suchen, zumal er mit Dina vor deren Heirat ein heftiges Verhältnis unterhalten hat und sie immer noch liebt.
In den Tod getrieben
Mit ihm machen sich auch der Arzt Gorski und der Ingenieur Solgrub als Detektive an dem Fall zu schaffen. Aus beiläufigen Indizien schließen sie, dass es sich nicht um einen freiwilligen Selbstmord gehandelt habe, sondern dass Bischoff durch ein „Monster“ in den Tod getrieben worden sei. Und nicht nur er, im Verlauf der von Yosch erzählten Begebenheiten kommen noch weitere Personen ebenso um wie er, eine Apothekerin und Solgrub selbst. Doch alle Hinweise und Spuren führen nicht weiter. Aus der Gesellschaftsstory wird eine Kriminalgeschichte – ohne definitives Ergebnis. Erst ein in einem monströsen alten Atlas verstecktes Manuskript aus dem Jahr 1533, das von einem Fall von Geistesverwirrung bei einem Maler der Renaissance, dem „Meister des Jüngsten Tages“ berichtet, erscheint Yosch als so plausibel, dass er seine Aufzeichnungen abbricht: damals wie zu seiner Zeit muss ein Kräutergemisch, die, die es einnahmen, bis in den Freitod verwirrt haben.
Diese glänzend erzählte Geschichte, die sowohl von Perutz großer Begabung zeugt, irrwitzige Verwicklungen zu erfinden, Situationen einleuchtend zu schildern, Figuren zu charakterisieren und ein Klima bedrohlicher, phantastischer Überraschungen zu erzeugen (wie in seinem anderen großen Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“), hat aber noch einen zweiten, ernüchternden Schluss, in dem alles, was Yosch aufgeschrieben hat, von Zweifeln zernagt wird. Das tödliche Gift, das die, die davon kosten, als letztes ein fatales „Drommetenrot“ (eine glücklicher Neologismus des Autors) sehen lässt, ist womöglich die Erfindung des Ich-Erzählers, um von seiner Schuld am Selbstmord Bischoffs abzulenken. Der Herausgeber Hans-Harald Müller hat in einem klugen Essay alle Implikation des Romans plausibel gedeutet – es bestärkt im Leser den Wunsch, das Buch gleich noch einmal zu lesen, um alle Hinweise, die der windige Yosch in seiner Rechtfertigungsgeschichte versteckt hat, zu erkennen. Er hat sehr wohl einiges „übergangen und unterdrückt.“ Aber vielleicht war alles auch ganz anders, als Yosch herausgefunden haben will und was in des Autors „Nachwort“ bezweifelt wird. Fest steht nur, dass der Erzähler im Ersten Weltkrieg gefallen ist.
Ein Virtuose des Rätsels
Man begreift nach der Lektüre jedenfalls besser, warum Daniel Kehlmann Perutz „den größten magischen Realisten unserer Sprache, einen Virtuosen des Rätsels, einen Baumeister erzählerischer Labyrinthe“ nennt. Und auch, warum Jorge Luis Borges ihn so schätzte.
Vielleicht gelingt es ja der neuen Ausgabe dieses und anderer seiner Bücher, Perutz’ Rang als den eines bedeutenden Autors der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts endlich zu etablieren. Er war einer der großen Erzähler jener Tage.
Literaturangaben:
PERUTZ, LEO: Der Meister des Jüngsten Tages. Zsolnay Verlag, Wien 2006. 218 S., 9 €.
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