Die seit der Antike immer wieder neuen Versuche, die Existenz eines Gottes zu beweisen, stellen sich in den religionswissenschaftlichen Forschungen in verschiedenen Ansätzen dar: Da ist zum einen die kosmologische Beweisführung, wonach Gott die Erstursache aller Bewegungen und Wirkungen sei. Zum zweiten sehen die Theologen in der Sinnhaftigkeit des Lebens den Gottesbeweis. Im moralischen und sittlichen Handeln begründen die Philosophen Gott. Im Wahren und Guten des Geistes und der menschlichen Vernunft findet sich Gott; und schließlich im ontologischen Beweis des höchsten Wesens wird Gott deutbar.
In allen Religionen, Glaubensbekenntnissen und mystischen Vorstellungen von jemandem, der sichtbar oder unsichtbar über dem menschlichen Denken und Empfinden steht, ist die Veränderung des Gottesbildes als prägendes und charakteristisches Merkmal deutlich: Niemals und nirgends ist Gott immer der Gleiche! Diese These ist alt und neu zugleich. Bekannt in den Theismen, wie im Monotheismus, den Glauben an nur einen Gott, im Polytheismus, in dem mehrere Götter vorhanden sind; und neu, wenn der Gott der Christen in seiner anthropomorphen Gestalt im Wandel der Geschichte betrachtet wird.
Wer baute das siebentorige Theben?
Die Frage, wie sich die Menschen des europäischen Mittelalters Gott vorgestellt haben, stellt sich Jacques Le Goff. Der 1924 geborene Historiker schreibt in der Tradition der „Nouvelle histoire“: Er will die Geschichte nicht mehr anhand von berühmten Gestalten vermitteln, sondern untersucht das Alltagsleben der Menschen. „Wer baute das siebentorige Theben“, diese Brechtsche provokative Frage gilt ja als der Ansatz der so genannten Mentalitätsgeschichte.
Aus dieser Betrachtung sind eine Reihe von Le Goffschen Veröffentlichungen entstanden, die Vergangenheit und Gewesenes für die Menschen begreifbar machen sollen: Jacques Le Goff erzählt die „Geschichte Europas“ (1997) und „Die Geburt Europas im Mittelalter“ (2004). Sein Europabild ist dabei bestimmt von Phänomenen, die die Entwicklung des Kontinents in der Vergangenheit bestimmt haben und es heute weiterhin prägen: „Die Verflechtung einer potentiellen Einheit mit einer grundsätzlichen Vielfalt, die Vermischung der Völker, die Teilungen und Widersprüche zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, die Uneindeutigkeit der Grenze zum Osten, die vereinigende Bevorzugung der Kultur.“
Im Gespräch mit dem Journalisten und Chefredakteur der französischen Ausgabe von „Welt und Umwelt der Bibel“, Jean-Luc Pouthier, rückt Le Goff die Auffassungen vom „finsteren Mittelalter“ zurecht, indem er diese geschichtliche Phase zwischen dem Untergang des Weströmischen Reichs (476) bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453) beschreibt als die Etablierung der Herrschaft des christlichen Gottes in Europa. Es geht um den Wandel des Gottesbildes und der Glaubensauffassungen der Europäer vom „orientalischen“ hin zum „Gott der Christen“, gewissermaßen als Übergang vom Tempel zur Kirche.
Die falschen Götter
Durch die Eroberung und Strukturierung des Raumes, nicht zuletzt durch die Herrscher und hierarchischen Eliten des Mittelalters, bis hin zum Gott der Geknechteten und Abhängigen, etabliert sich die „Menschwerdung“ Gottes, durch Jesus, der unter den Menschen als ihresgleichen gelebt hat. In jener Zeit entstand auch der heute im interreligiösen Dialog als ein Hindernis empfundene Anspruch, dass es neben dem christlichen Gott keinen anderen gebe und die anderen Götter, wie „Jahwe“ bei den Juden und „Allah“ bei den Muslimen, nur „falsche Götter“ sein könnten.
Ein weiteres Charakteristikum zeigt Le Goff durch den Wandel der Gottesauffassung vom spätantiken „Unantastbaren“ hin zum „irdischen“ Gott. Damit aber auch zum „Majestas-Domini“, zum Gottvater, zum Richter, bis hin zum Christus der Passion und des Leidens, und nicht zuletzt zur Sakralisierung der irdischen Macht durch Kirche und Monarchie. Interessant in der historischen Reflexion über das Gottesbild des Mittelalters ist dabei die durchaus kontraproduktive Erkenntnis, dass für die Menschen jener Epoche der „Gott-Mensch“ zum „lieben Gott“ wurde; gleichzeitig aber auch der „unbarmherzige“ Gott zum Vorschein kam, mit den (menschlichen) Eigenschaften von Unduldsamkeit, Fanatismus, Machtstreben und -ausübung.
Le Goff will mit seinen Ausführungen über das Gottesbild der Menschen im Mittelalter sicherlich nicht in erster Linie eine Blaupause für unser gegenwärtiges und zukünftiges Gottesbild in Europa liefern. Mit seiner Auffassung jedoch, dass Geschichtsinterpretation mit einer „Langzeit-Perspektive“ (longue durée) vollzogen werden sollte, vermittelt er uns ein Stück Geisteswerkzeug dafür, wie sich eine humanistisch und historisch orientierte Frage nach Gott heute, im globalen Zeitalter, weiter entwickeln könnte. Die Frage nach dem Göttlichen, als eine Rückfrage nach dem Menschlichen in der „leidenden“, unvollständigen und von Ungerechtigkeit bestimmten Welt, das könnte ein Weiterfragen HIER und HEUTE provozieren. Jacques Le Goff wäre dafür nicht schlecht geeignet.
Literaturangaben:
LE GOFF, JACQUES: Der Gott des Mittelalters. Eine europäische Geschichte. Gespräche mit Jean-Luc Pourthie. Abbildungen von Benedikt Schaufelberger. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005. 110 S., 9,90 €.