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Im Rausch ihrer selbst: Eine Biographie über Paula Modersohn-Becker

Kerstin Deckers Werklebensgeschichte der Malerin Paula Modersohn-Becker

© Die Berliner Literaturkritik, 05.12.07

 

„Paula Modersohn-Becker (geboren am 8. Februar 1876 in Dresden; gestorben am 21. November 1907 in Worpswede) war eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus. In den knapp vierzehn Jahren, in denen sie künstlerisch tätig war, schuf sie 750 Gemälde, etwa 1.000 Zeichnungen und 13 Radierungen, die die bedeutendsten Aspekte der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in sich vereinen.“ So nüchtern kann man es bei „Wikipedia“ lesen.

Aber was für ein Mensch verbarg sich hinter dieser großartigen Künstlerin? Welchem inneren Antrieb folgte sie mit ihrem künstlerischen Schaffen? Die Autorin Kerstin Decker, die bereits mit ihrer ambitionierten und viel besprochenen Heinrich-Heine-Biografie ein Achtungszeichen gesetzt hat, begibt sich nun ganz tief in die Seele dieser Frau.

Kerstin Decker beginnt ihre Biografie im Frühjahr 1906: „Sie ist im Begriff, eine Revolution zu beginnen, und weiß es nicht. Am Ende dieses Tages wird die Revolution vollbracht sein. Aber man sieht ihr die Aufrührerin nicht an (…) Jetzt, am 25. Mai 1906 in der Avenue du Maine in Paris, malt – wohl zum allerersten Mal – eine Frau sich selbst: hüllenlos. Der erste weibliche Selbstakt entsteht.“

Und in gewissem Sinne ist es sogar eine „doppelte Bild-Revolution“. Denn Paula Modersohn-Becker malt sich nackt und schwanger. Schwanger ist sie zu diesem Zeitpunkt nicht, „höchstens schwanger von sich. Sie ist eine selbst Befruchtende – wie Künstler es sind. Sie ist ihr eigener Rausch.“

Von ihrem Mann Paul Modersohn wurde ihr Wirken einmal als „Löffel-und-Kolben-Malen“ bezeichnet: Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben. „Paula ist die Malerin des Runden unter den Bedingungen der Modernität“, schreibt Decker. Sie malt geteilte Räume, Rundräume, die sich selbst genug sind. Bereits die Griechen erkannten in der Kugel das vollkommene Sein.

Im Jahr 1899 hatte sie das erste Mal in der Bremer Kunsthalle ausgestellt und vernichtende Kritiken erfahren. Ihre Studien - Menschen aus den Worpsweder Armenhäusern - gefielen nicht. Niemand wollte diese „Hängebäuche“ sehen, diesen Mut zur Farbe. Aber es sollte trotzdem ihr Jahrhundert werden. Denn genau zu dieser Zeit malt bereits ein Anderer fast so wie sie. Und bald schon wird die Welt diese Art zu malen unter dem Namen Kubismus kennen. Damals kennt ihn kein Mensch: „Er hat gerade hinter sich, was andere bald seine ‚rosa Periode’ nennen werden. Es ist Pablo Picasso.“

Doch nicht ihn stellt Kerstin Decker Paula Modersohn-Becker an die Seite. Sondern einen Mann, der zu Beginn der literarischen Moderne in Deutschland ebenfalls ganz für sich allein stand: Rainer Maria Rilke. Sie waren eng befreundet. Ihm fühlte sich Paula seelenverwandt.

Rilke begleitet den Leser dieser Biografie nicht als „Neben-Mensch“, sondern er tritt als „Haupt-Mensch“ auf. Große Teile werden ausführlich ihm gewidmet. „Vor allem, weil eine Künstlerbiografie schließlich die Lebensgeschichte des Werks erzählt, die Werklebensgeschichte.“, so die Autorin.

Paula Modersohn-Becker und Rainer Maria Rilke vollzogen in ihrem Werk die gleichen Bewegungen. Sie wagten sich in Bereiche vor, „in denen es nichts Festes mehr gibt, in denen alles flüssig wird, nach ganz innen. In die wahren Intimräume, in seelisches Magma.“

Leben! Leben! Leben! (Paula Modersohn, Worpswede, den 24. Juli 1897)

Einen weiteren großen Schwerpunkt in dieser Biografie – die vor allem intensiv und tiefgreifend die Jahre 1900 bis 1906 beleuchtet – nehmen das Leben in der Künstlerkolonie Worpswede, aber auch ihre künstlerischen Schaffensreisen nach Paris ein.

Kunstvoll verwebt Decker Nietzsches Zarathustra – den Paula gelesen und mit dem sie sich tief verbunden fühlte – mit der Handlung. Dessen Einsamkeiten waren auch die der Künstlerin. Sie war die „Jüngerin Zarathustras“. Zarathustra war ihr Alter Ego. Und dann gab es noch ihre „Schwesterseele“: eine tiefe Freundschaft verband Paula mit der Bildhauerin und späteren Frau Rilkes – Clara Westhoff.

Aber immer wieder fließen die elegischen Worte Rilkes ein. Beiden Künstlern der Avantgarde hat Kerstin Decker in diesem Buch ein Denkmal gesetzt. Diese Biografie scheint aus der Feder Rilkes geschrieben. Die Autorin trifft dessen hohen Ton veritabel, übernimmt dessen „Schwung der Rede“, ohne ihn oberflächlich zu kopieren. Anhand eingeflochtener Gedichte Rilkes und inniger Briefwechsel der beiden verschmilzt der Leser kongenial mit dieser außergewöhnlichen Frau. Ein zartes Klingen und Vibrieren durchzieht die Zeilen, erzeugt ein feines Tremolo beim Lesen. Diese Biografie liest man physisch, fühlt sie in allen Nerven, in den Handgelenken, den Fingerspitzen, den Lippen: lyrische Prosa für die Augen.

Gleichzeitig legt die Autorin ein sehr gut recherchiertes Werk vor und bringt alles in einen kohärenten Zusammenhang. Gedanken und Gefühlen der Personen, die nicht auf tatsächliche Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sich Decker behutsam an, wägt ab, variiert. Nie zwingt sie ihre Interpretation auf. Sie erzeugt eine Art literarischen Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren kann.

Picasso brauchte seine Gertrude Stein. Paula brauchte Hoetger, Rilke, Modersohn und – vor allem Heinrich Vogeler, den Unermüdlichsten ihrer späteren Propagandisten.“ Die Entdeckerin des Menschen Paula – das ist Kerstin Decker. Ein großartiges Buch und eine wunderbare Erinnerung anlässlich ihres 100. Todestages am 21. November 2007.

Dies ist eine Biografie der etwas anderen Art, hier sind keine Daten chronologisch aneinandergereiht. Immer wieder springt die Autorin aus den letzten Jahren der Künstlerin in deren Anfangszeit zurück. Das Buch liest sich tendenziell wie das Tagebuch Paula Modersohn-Beckers, aber lyrisch bearbeitet von Rainer Maria Rilke. So, als würde der Leser wahllos zwischen den Seiten hin- und her blättern, einmal innehalten, dann wieder etwas weiter hinten einsetzen. Jedoch ohne desorganisiert noch störend zu wirken. Der rote Faden geht dabei niemals verloren. Alles fügt sich schlüssig zusammen: eine Seelenoffenbarung zweier seelenverwandter, großartiger Künstler - eine intellektuelle Meisterleistung, ein gelungenes Orchesterwerk mit Paula Modersohn-Becker als „Hauptton“ und vielen wunderbaren „Nebentönen“.

„Ich bin Ich, und hoffe, es immer mehr zu werden. Dies ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen“ (P.B. 17.02.1906)

Kerstin Decker schafft einen Klangraum mit vielen Gleichschwingenden, aber jeder ist doch sein ganz eigener Ton darin. Um eine Buchempfehlung mit modifizierten Worten dieser großartigen Malerin zu geben: Lesen! Lesen! Lesen!

Von Heike Geilen

Literaturangaben:
DECKER, KERSTIN: Paula Modersohn-Becker. Eine Biografie. Propyläen, Berlin 2007. 304 S., 19,90 €.

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