Das publizistische Wunder des Marcel Reich-Ranicki besteht darin, dass, je weniger er schreibt, immer mehr Bücher von ihm erscheinen. 2004 erschien der Band „Über Amerikaner“, 2005 die überarbeitete Neuausgabe über „Thomas Mann und die Seinen“ und in diesem Jahr der Titel „Marcel Reich-Ranicki antwortet auf 99 Fragen“.
Allen Bänden ist gemein, dass ihr Inhalt auf bereits publizierten Texten beruht, die thematisch neu verwurstet wurden. Energetisch besonders günstig kommt dabei jenes 99-Fragen-Buch daher: Es geht auf die wöchentliche Rubrik „Fragen Sie Reich-Ranicki“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zurück, in welcher sich der Kritiker den Fragen seiner Leser stellt. Diese kennen ihren Meister durch seine publizistische Allgegenwärtigkeit inzwischen so gut, dass sie zuvörderst um solche Auskünfte bitten, von denen sie eh schon wissen, wie sie ausfallen werden.
Anti-Interviews
Nun hat das jüngste Produkt die Ranicki-Recycling-Fabrik verlassen. Unter dem Titel „Aus persönlicher Sicht“ ist eine Sammlung von Gesprächen aus den Jahren 1999 bis 2006 erschienen. Die „wichtigsten“ Interviews seit Erscheinen seiner Biografie „Mein Leben“ seien diese, meint die verantwortliche Deutsche Verlags-Anstalt. Marcel Reich-Ranicki gibt viele wichtige Interviews. Das Buch ist somit recht dick.
Die Gespräche kreisen um Reich-Ranickis außerordentlich lesenswerte Biographie, über seine inzwischen auch in einem eigenen Buch behandelte Liebe zur Musik oder über seine gewaltige Kanonkassette. Eine weitere lange Strecke nimmt ein munterer Dialog zwischen Reich-Ranicki und seiner Kollegin, dem „Mädchen“ Elke Heidenreich ein, der als Live-Mitschnitt bereits als Hörbuch veröffentlicht wurde („Wozu lesen?“). Die Publikations-Maschine rotiert also weiter.
Wer immer noch nicht weiß, wer die Lieblingsautoren von RR sind, was er über Wagner denkt, wieso wir seinen Kanon brauchen, der muss sich diesen Gesprächsband unbedingt zulegen. Dann wird er auch auf zwei wirklich lesenswerte Gespräche stoßen, die bezeichnenderweise Anti-Interviews sind. Eine listige Befragung durch Roger Willemsen über das Alter und ein Gespräch mit Julian Schütt, das einen wunderbar ungeduldigen, gereizten und ruppigen Reich-Ranicki präsentiert.
„Beckmesserei“
Irgendwo in seinem ausufernden publizistischen Werk hat Reich-Ranicki einmal gesagt, dass er mit der doppelten und dreifachen Verwertung seiner Schriften selbst nichts zu tun habe, die Verlage wünschten das so und er ließe sie eben gewähren. Für die Verlage, ob sie nun DVA, Insel oder S. Fischer heißen, scheint diese generöse Haltung ein einträgliches Geschäft zu sein; der Kritikername zieht.
Und viel Arbeit macht das Ganze auch nicht. Einfach drag and drop und fertig ist der neue RR. Die Deutsche Verlags-Anstalt indessen hatte sich beim vorliegenden Band etwas zu viel Arbeit sparen wollen. „Aus persönlicher Sicht“ sollte eigentlich schon im Frühjahr erscheinen, musste dann jedoch zurückgezogen werden: Der Verlag hatte es nicht nur versäumt, die Rechteinhaber um Erlaubnis zu fragen, sondern auch aus einer „Beckmesserei“ irrtümlich eine „Bettnässerei“ gemacht.
Die Ärgernisse sind beseitigt. Im vorliegenden Band wird mit freundlicher Genehmigung der Beteiligten nur mehr gebeckmessert.
Literaturangaben:
REICH-RANICKI, MARCEL: Aus persönlicher Sicht. Gespräche 1999 bis 2006. Hrsg: Christiane Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 364 S., 22,90 €.
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