Ein Mädchen stopft ihren gelben Pullover mit Hilfe eines Hammers in eine prallgefüllte Aldi-Tüte. Weg von zu Hause will es, seinen Vater suchen. Feiste Kulturschaffende fachsimpeln auf Vernissagen über den Kunstmarkt, ein leprakranker Bildhauer des 18. Jahrhunderts arbeitet mit seinen letzten Gliedmaßen so lange an seinem Lebenswerk, bis von ihm selbst fast nichts mehr übrig ist. Tankred Dorsts Erzählung „Der schöne Ort“, wie alle Werke des Theaterschriftstellers seit den Siebzigerjahren unter Mitarbeit von Ursula Ehler entstanden, verbindet Alltägliches mit Groteskem, zeigt die Menschen in ihrem Wahn, der sie zu manchmal unverständlichen Taten treibt und dessen Ursprung nicht eindeutig zu verorten ist. Dorst, der auch in seinen Stücken gerne Ausschnitte des Privaten zeigt, verliert sich ebenso wenig dort wie in „Der schöne Ort“ in detailgetreuen Miniaturen, sondern schafft mit kurzen Erzählsträngen verschiedene autarke Fragmente, die er überraschend zu einer einzigen Erzählung verkettet.
Was haben ein Jurist, der sich von jeglichem Ballast in seinem Leben lösen möchte und bei dieser „Tabula Rasa“ seine Familie mit einschließt, ein Mädchen, welches glaubt, ihr Vater sei der König von Spanien, und eine alte Dame, die stets reisefertig auf ihrem Sofa sitzt, gemeinsam? Was bringt die Menschen dazu, jemand anderes sein zu wollen, wie Lisa, der ihre Bewunderung für die schöne Freundin zum Verhängnis wird? Warum stürzt sich ein junges Liebespaar in den Tod, wo nebenan der Rentner auf einer leeren Bierkiste überzeugt das Leben ausharrt (er hat ja nur dies eine)?
Extreme ohne Antworten
Dorst zeigt nicht die Ursachen, sondern lediglich die Symptome einer aus den Fugen geratenen Welt. Seine Figuren sind prätentiöse Intellektuelle, unglückliche Ehefrauen, depressive Jugendliche, Spanner und Attentäter. Extreme stellt er einander gegenüber, ohne diese jedoch Antworten geben zu lassen, zu groß ist die Diversität seines zersplitterten Universums.
Da gibt es den Jungen, der kalt mit seinem von zu Hause ausgerissenen Vater über die Alimente verhandelt, oder den Stiefvater, der seine Ziehtochter misshandelt und der mehr als nur ein Voyeur ist. Der Rentner, der seinem Hund als Liebesbeweis Tritte gibt oder der eingebildete Kunsthistoriker wirken dagegen schon wieder komisch. Immer ist es jedoch eine harsche bis grausame Komik, welche die Geschichten durchzieht, gepaart mit einem unmittelbaren Realismus, der von dem kolloquialen Sprachstil unterstrichen wird.
Artefakte der Fantasie
Trotz ihres teilweise schroffen Realismus stellen sich Dorsts Geschichten jedoch als Artefakte einer Fantasie dar, die in der Lage ist, diese scheinbar chaotische Welt ihren eigenen Gesetzen zu unterwerfen. Episoden, die bei einem strikten Realismus nicht kompatibel wären, kommen hier zusammen. So trifft das Mädchen auf ihrer Flucht den brasilianischen Bildhauer aus vergangener Zeit, und die wohlsituierten Kulturschaffenden werden Zeugen eines von eben diesem Mädchen begangenen Diebstahls.
Dorst verwebt die Episoden aus ganz verschiedenen Lebensbereichen zu einem bunten Teppich, sein Werkzeug ist die Imagination. So sprechen seine Geschichten letztendlich auch über die Macht der Kunst über die Wirklichkeit: Wie in einer Collage ergeben die einzelnen Erzählschnipsel ein Bild der Welt als ein subjektiv empfundenes Allerlei, das Werk gibt ihm schließlich einen Rahmen, gibt ihm eine künstliche Struktur, eine Struktur, die im wahren Leben fehlt.
Das Geschenk Leben
Exemplarisch für diese fehlende Struktur kann die grausame Geschichte der Ehefrau eines Kriegsheimkehrers stehen, in deren Leben nichts so kommt, wie sie es sich vorgestellt hat. Von einer der Figuren als Witz erzählt, spricht diese Episode lediglich von der Kapitulation vor einer sich als absurd darstellenden Welt, von der Flucht in die Komik angesichts eines nicht überschaubaren Schicksals.
Immer geht es in den Geschichten auch um den Umgang der Menschen mit dem Geschenk Leben, um ihre Träume, ihre Enttäuschungen: Sie machen sich das Leben gegenseitig zur Hölle, schlagen sich oder versuchen einfach nur miteinander auszukommen. Dorst zeigt in „Der schöne Ort“ in kurzen Episoden ein Panorama menschlicher Lebensweisen, welches von der unterwürfigen Akzeptanz einer Ehefrau über die absolute Verneinung des Lebens des jungen Liebespaares bis hin zum starren Aushalten des alten Mannes geht: „Tot sein, das ist doch kein Zustand“, empört sich der Rentner über die jungen Selbstmörder aus der Nachbarschaft, dabei hustet und keucht er.
Literaturangaben:
DORST, TANKRED: Der schöne Ort. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 105 S., €16,80.