Hans ist scharf auf Anna und Anna ist scharf auf Hans. Sie schlafen miteinander. Einmal, zweimal, mehrmals. Das junge Paar ist verliebt, aber nicht verheiratet. Das wollen die Verwandten von Anna ändern und zwar möglichst schnell. Während sich Anna und Hans, so mag man es sich vorstellen, leidenschaftlich im Bett wälzen, schleichen sich Annas Verwandte in das Zimmer der Liebenden, zerren den erschreckten Hans aus den Laken und halten ihm ein Schwert vor das Gesicht. Immerhin – man lässt ihm die Wahl: Hochzeit oder Tod. Hans wählt das Leben.
Das war im Jahr 1439. Das dramatische Stück Geschichte ist nicht etwa der lüsternen Phantasie eines weinseligen Literaten entsprungen, es hat sich tatsächlich ereignet.
Der emeritierte Mediävist Ludwig Schmugge hat die zugehörige Akte studiert. Sie und 6.386 andere Papiere deutscher Paare und Eheleute, die sich zwischen 1455 und 1492 hilfesuchend an den Papst wendeten. Seine in jahrelanger Arbeit gewonnenen Erkenntnisse über das Eheleben im spätmittelalterlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation liegen jetzt in einer umfangreichen Publikation vor. „Ehen vor Gericht – Paare der Renaissance vor dem Papst“ ist ein Sachbuch, das Geschichte erlebbar macht.
Dass wir heute von Johannes „Hans“ Eysselin und Anna Burglin wissen, ist der archivarischen Akribie des Vatikans zu verdanken. In dessen Geheimarchiv haben sich die Akten der Pönitentiarie erhalten, des zentralen Buß- und Gnadenamtes der Römischen Kirche.
Hans hatte sein Bittschreiben an den Papst gesendet, weil seine Ehe unter Zwang geschlossen wurde. Nach kirchlichem Recht war sie damit ungültig. Genau das wollte Hans sich offiziell bestätigen lassen, um frei für eine andere Frau zu sein.
Doch nicht nur Schreiben über erzwungene Ehen landeten auf den Schreibtischen der über 200 Angestellten der Pönitentiarie. Das Kirchenrecht kannte viele Wenns und Abers, wenn es um die Rechtmäßigkeit einer Ehe ging. Und das kirchliche Amt konnte im Namen des Papstes Gnade gewähren, um eine Verbindung dennoch zu legalisieren – oder sie aufzuheben. Es sind Geschichten von Männern und Frauen, die erst Jahre nach der Hochzeit feststellten, dass sie im x-ten Grad verschwägert oder verwandt waren und dennoch verheiratet bleiben wollten. Es geht um Menschen, die einander zur Hochzeit zwangen, um Frauen, die ihre Kinder legalisieren lassen wollten, um Konkubinen, Priester und Nonnen. Um verführte Mädchen und ausgetrickste Junggesellen.
Schmugge hat aus dem Fundus der Akten mitunter bühnenreife Geschehnisse herausgesucht, sie analysiert und nach Anlass des Briefes und Herkunft geordnet. Der Historiker ist mal Erzähler, mal Wissenschaftler, mal nüchterner Betrachter, mal ironischer Berichterstatter. In fünf Kapitel hat Schmugge sein Buch untergliedert. In den ersten beiden ist er ganz Wissenschaftler. Er erklärt die Grundlagen des spätmittelalterlichen Eherechts und erläutert damit verbundene Fachbegriffe. Schmugge gibt seinen im Fach unkundigen Lesern das Rüstzeug, um die folgenden zentralen Kapitel des Buches verstehen und mit entsprechendem Vergnügen lesen zu können.
Denn das ist es, dieses Fachbuch: ein Lesevergnügen. Schmugge kommt um Ironie nicht herum, und man dankt es ihm. Was aus heutiger Sicht einer Posse gleicht, wird für die meisten Bittsteller vor 550 Jahren allerdings alles andere als komisch gewesen sein. Es ging um wirtschaftliches Überleben, um Geld, um Ehre, manches Mal auch um Liebe. Das weiß auch Ludwig Schmugge. Er weist darauf hin, dass die geschilderten Geschichten sich tatsächlich ereignet haben und keineswegs der Feder eines Novellenschreibers entflossen sind. Der Autor kommt mit seinem Buch dennoch manches Mal nah an die Grenze zum Voyeurismus, überschreitet sie allerdings nie. Genau das macht den Reiz von „Ehen vor Gericht“ aus. Schmugge bedient sich realer Geschehnisse, um Geschichte erlebbar zu machen – ohne die Protagonisten vorzuführen.
Schmugge hat ein Buch verfasst, das einen der privatesten Bereiche im Leben der Menschen zur Zeit der Renaissance entmystifiziert. „Ehen vor Gericht“ räumt auf mit Vorurteilen über ein prüdes Liebesleben von Männern und Frauen im Mittelalter und zeigt eine überraschend gnädige und duldsame katholische Kirche.
Von Ariane Stürmer
Literaturangaben:
SCHMUGGE, LUDWIG: Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst. Berlin University Press, Berlin 2008. 291 S. mit 17 Abbildungen und 15 graphischen Darstellungen, 44,90 €.
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