Manchmal hat die Schwerpunktbildung der Frankfurter Buchmesse ihr Gutes. Nach Gastländern, deren hierzulande vorgestellte Autoren heute wieder vergessen sind – wer entsinnt sich noch einer einzigen griechischen Autorin oder eines Lyrikers aus Südkorea? –, verheißt das Jahr 2008 eine Entdeckung größeren Ausmaßes.
Denn mit der Türkei ist ein Literaturland zu entdecken, dessen Autoren bisher – mit Ausnahme des Literaturnobelpreis- und Friedenspreisträgers Orhan Pamuk – eher links liegen gelassen worden sind. Wenn nicht gar ignoriert wurden. Die Begründung? Zu exotisch, zu wenig „europäisch“ (deshalb hat umgekehrt der großbürgerliche, gen Westen orientierte „Europäer“ Pamuk schon vor seinen Auszeichnungen sowohl Erfolg bei Publikumsverlagen gehabt wie auch beim Lesepublikum). Zu gering die kulturellen Voraussetzungen hier (in Westeuropa), um dort (die Türkei) zu verstehen und somit auch den Kontext, in dem die türkische Literatur des 20. Jahrhunderts entstand.
Zahlreiche Autoren werden erst jetzt bekannt, infolge der erstaunlich starken bücherherbstlichen Anstrengung ganz vieler Verlage, ihre Bücher eindeutschen zu lassen. Nun, vielleicht werden sie nicht ganz bekannt, dafür aber zumindest greifbar. Und für die Leserschaft zu entdecken. Nicht nur lebende, mit denen man, sofern weiblichen Geschlechts und optisch ansprechend, trefflich werben kann. Sondern auch die nur in Fermenten bekannte Riege der modernen Klassiker ist nunmehr zu entdecken. Erstmals.
Etwa Ahmet Hamdi Tanpýnar (1901-1962). Der des Türkischen unkundigen Leserschaft ist dieser Autor bisher nur als recht melancholischer und recht einsamer Stadtspaziergänger aus Orhan Pamuks Stadtporträt „Istanbul“ (2006) bekannt. Tanpýnar, der 1901 geboren wurde, veröffentlichte bereits während seines Studiums Gedichte. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft, das er 1923 beendet hatte, arbeitete er rund zehn Jahre als Gymnasiallehrer in Erzerum, Konya und in Ankara. Schließlich kehrte er nach Istanbul zurück und unterrichtete Kunstgeschichte an der dortigen Akademie der Schönen Künste. 1939 wurde er, ohne den üblichen akademischen Nachweis führen zu müssen, Professor für türkische Sprache und Literatur, und hatte bis zu seinem Tod 1962 den Lehrstuhl für moderne Literatur am Turkologischen Institut inne.
Ab 1940 widmete er sich verstärkt eigenen schriftstellerischen Arbeiten, von 1942 bis 1946 gab er dann noch ein kurzes Zwischenspiel als Abgeordneter der regierenden Republikanischen Volkspartei in der Türkischen Nationalversammlung, wobei er kaum auffiel – vielleicht, wie seine Exegeten mutmaßen, absolvierte er dies einzig und allein aus dem Grunde, sich so den Zwängen der Universität zu entziehen. Er verfasste naheliegenderweise Wissenschaftliches, eine noch immer gelesene Geschichte der türkischen Literatur des 19. Jahrhunderts beispielsweise und Aufsätze. Aber auch mehr oder minder konventionelle Lyrik. Und poetische Städteporträts, von Ankara zum Beispiel und Konya und Bursa und immer wieder von Istanbul. Fünf Romane schloss er ab, von denen nur ein einziger, „Huzur“ (1949) – dieser Tage im Unionsverlag unter dem Titel „Seelenfrieden“ erschienen –, zu seinen Lebzeiten herauskam. Die anderen wurden 1973 gedruckt, 1975 und 1987. Und „Das Uhrenstellinstitut“ im Jahr 1962, nur wenige Monate nach seinem Tod.
Dieser Roman, den Gerhard Meier überaus schmiegsam ins Deutsche übertragen hat, ist eine feinsinnige und feinironische Farce über Bürokratie und einen harmlosen, sympathischen begriffsstutzigen Narren namens Hayri Irdal. Dieser beschreibt als Ich-Erzähler aus dem Rückblick seine Lebensstationen. Doch auch nach mehreren Jahrzehnten auf Erden hat er, ein im Wortsinne unzuverlässiger Berichterstatter, aber noch immer nichts, schlichtweg rein gar nichts verstanden, was ihm denn so zustieß im Leben und wieso. Und wie es ihn nach gewundenen Wegen – von einer frühen, abgebrochenen Uhrmacherlehre über eine Beamtenstelle, Arbeitslosigkeit, mehr oder minder traurige Ehen, Bohemekreise in Istanbuler Kaffeehäusern, eine Inhaftierung und psychiatrische Untersuchung und merkwürdige Erlebnisse und Vorkommnisse in spiritistischen Kreisen beispielsweise – schließlich in das hypertrophe Unternehmen eines Hunderte von Angestellten zählenden Uhrenstellinstituts in Istanbul verschlug.
Geleitet wird dies von einem charismatischen Schaumschläger und rhetorisch wie logisch versierten Luftikus namens Halit Ayarcý. Dem es dank Beziehungen in die richtigen administrativen und politischen Kreise gelingt, aus einer abseitigen, völlig überflüssigen Idee, dem Stellen einer Uhr, richtiggehend eine Industrie zu kreieren und ein Forschungsinstitut sich finanzieren zu lassen, in dem Statistiken frei Hand erfunden werden und in dem Assistentinnen damit ausgelastet sind, jeden Tag Pullover zu stricken, und – letzter Schrei der Moderne! – fast ein jeder eingestellt wird und erst dann geschaut wird, auf welch gänzlich unproduktive Arbeit er sich sanft entschlummernd konzentrieren soll. Jede Menge skurriler Figuren, Abenteurer, Spinner, Alchemisten, Schatzsucher und Psychoanalytiker, treten auf und treten wieder ab.
Tanpýnar spießt hier, sich dabei der türkischen Tradition des Karagöz, einer Variante der Commedia dell’arte, bedienend und eines perspektivisch verschobenen Erzählens – Großes wird klein, Kleines ganz groß für Hayri, der keinerlei Menschenkenntnis besitzt, dafür aber ein sehr menschliches Übermaß an Naivität –, so ziemlich alles auf, was das 20. Jahrhundert hervorbrachte: von der zergliedernden Seelenkunde – die Schilderung der psychoanalytischen Sitzungen gehören mit zum Schönsten dieses Buches – über Patronage, Nepotismus, hohlen Bürokratismus, fehl geleitete Modernisierung, das bis heute gültige „Projektemachen“ und das ebenso gültige Diktat einer strikt ökonomischen Zeitverwendung.
„Von Beruf zu Beruf spielt der Gang der Uhren eine unterschiedliche Rolle“, erläutert an einer Stelle Halit Ayarcý in seiner vorbildlich Umwege nehmenden aberwitzigen Logik. „So kommt es zum Beispiel Arbeitern und kleinen Angestellten sehr darauf an, dass eine Uhr richtig geht. Bei Lehrern ist es ähnlich. Privatiers dagegen, Hausfrauen und insbesondere Dienstboten, also Leute, die außer ihrer Arbeit keine Arbeit haben …’ Unter Leuten, die außer ihrer Arbeit keine Arbeit hatten, konnte ich mir nun gar nichts vorstellen. ‚Ich meine Leute, die außer der Arbeit, zu der man sie nötigt, keine andere Beschäftigung haben. Oder die sich eben ganz und gar ihrer Arbeit widmen. Eine Frau dagegen, die gerne liest, schreibt oder sich mit Musik beschäftigt, wird naturgemäß ihre Hausarbeit so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie hat ja etwas anderes vor. Zeit ist für sie daher etwas Kostbares. Frauen, die auswärts arbeiten, geht es genauso. Auch den Dienstboten, die als Tagelöhner arbeiten, während bei den anderen der Zeitbegriff viel schwammiger ist.’“
Und auch das Umschreiben respektive das Erfinden der – richtigen, weil korrekterweise benötigten – Vergangenheit wird glossiert. Verfasst doch Hayri als Legitimation des ganzen Uhrenstellinstituts ein zentrales Werk über einen türkischen Zeitmesserpionier des 18. Jahrhunderts – das von vorne bis hinten reine Fiktion ist. „Das Uhrenstellinstitut“ ist aber nicht zuletzt auch eine intelligente, abgefeimte, unterhaltsame Satire auf die Modernisierung der Türkei vom ruckhaften Übergang des zusammenbrechenden morschen Osmanischen Reiches hin zu einer gelenkten, erklärtermaßen modernen Republik.
Tanpinars stilistische Eleganz und seine abgeklärte Leichtigkeit machen, gerade weil dieser Romanreigen voller überschäumender Phantasie und Seitenhiebe auf Menschlich-Allzu Menschliches an keiner Stelle verkniffen oder misanthropisch verbittert daherkommt, die Geschehnisse um künstlich aufgeblasene Bürokratie, den natürlichen Drang des Menschen zur Faulheit und die phantasmagorische Fabrikation von Tradition und Geschichte zu einem bezaubernd überzeitlichen und berdückend zeitlosen Prosakunstwerk.
Literaturangaben:
TANPINAR, AHMET HAMDI: Das Uhrenstellinstitut. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Mit einem Nachwort von Mark Kirchner. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2008. 432 S., 24,90 €.
Verlag