Sie sind verstorben oder reden nur selten über ihre Erfahrungen: 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten, die zwischen 1944 und Anfang der 50er Jahre geflüchtet sind oder vertrieben wurden. „Die Furcht, sich dem Vorwurf auszusetzen, die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen relativieren zu wollen, hatte die Flucht und Vertreibung lange zu einem Nischenthema gemacht“, begründet Ralf Georg Reuth. Er ist Mitherausgeber des Buches „Deutsche auf der Flucht“. Er will gemeinsam mit der „Bild“ die Geschichte der Vertriebenen und Flüchtlinge „aus der Nische des schamvollen Vergessens“ herausholen. „Mehr als 60 Jahre danach ist die Zeit reif geworden, sich der Geschichte der Vertriebenen anzunehmen.“
Über 100 Zeitzeugen berichten in „Deutsche auf der Flucht“, wie sie einst ihre Heimat verließen und ums nackte Überleben kämpften. Einer von ihnen ist Walter Krzak. Er lebt heute in Leer. Auf der Flucht kämpfte er ums Überleben. Nicht nur Hunger und Durst quälten ihn. Er sah, wie andere starben – und musste helfen, sie zu bestatten. „Ich wurde immer wieder geholt, um Massengräber auszuheben“, erinnert er sich.
Krzak gibt mit seinen Erinnerungen den schrecklichen Folgen des Zweiten Weltkrieges ein Gesicht. So wie er rufen auch die anderen Zeitzeugen den Nachkriegsgenerationen das Grauen einer der größten Völkerwanderung der letzten Jahrhunderte ins Gedächtnis: Bepackt mit dem Nötigsten machen sich die Menschen in kilometerlangen Trecks zu Fuß, mit dem Pferdewagen oder mit dem Schiff durch Eis und Schnee auf den Weg nach Westen, ins Ungewisse. Sie stammen aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien, dem Sudentenland oder aus Böhmen und Mähren. Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge kommen dabei ums Leben. Sie werden erschossen, sterben vor Erschöpfung oder ertrinken in der Ostsee.
Wer Flucht oder Vertreibung überlebt, wird seine Erfahrungen sein Leben lang nicht mehr vergessen. Doch thematisiert werden diese selten. Wenn überhaupt, dann nur im geschützten Kreis der eigenen Familie. Viele Überlebende haben und hatten Angst vor dem Vorwurf, mit ihren Erinnerungen die Gräueltaten der Nationalsozialisten rechtfertigen oder abschwächen zu wollen. Die Ereignisse werden (überwiegend) totgeschwiegen.
Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende rüttelt der TV- Film „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler an den gut weggeschlossenen Erinnerungen. Die Bild-Zeitung ruft nach der Ausstrahlung des Films ihre Leser auf, ihre eigenen Erinnerungen an die dramatischen Ereignisse von damals einzusenden. Der Zeithistoriker und Journalist Ralf Georg Reuth stellt daraus ein sehr packendes Geschichts-Dokument zusammen.
Der Sammelband ist ein Vermächtnis der Betroffenen. Gegliedert nach den einzelnen Landstrichen können insbesondere Generationen, die den Zweiten Weltkrieg nicht erlebten, Flucht und Vertreibung anhand von Originaldokumenten und einem ausführlichen Kartenmaterial in gut verständlichem Deutsch nachvollziehen. Darüber hinaus werden die persönlichen, sehr subjektiven Erinnerungen der Betroffenen in einen historischen Kontext gestellt. Die abstrakten Daten und Zahlen bekommen „ein menschliches Gesicht“! Möglicherweise ist das für einige Jüngere der Einstieg, sich nochmals – und durchaus kritisch – mit Flucht und Vertreibung zu beschäftigen! Es wäre nicht der schlechteste Anfang!
Von Karin Istel
Literaturangaben:
REUTH, RALF G. (Hrsg.): Deutsche auf der Flucht. Zeitzeugen-Berichte über die Vertreibung aus dem Osten. Weltbild Buchverlag, Augsburg 2007. 216 S., mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 12,50 €.
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