Der Kunstherbst 2008 in Wien war wie jedes Jahr vielfältig. Vor allem drei Highlights zogen diesmal die Besucher magisch an: Vincent van Goghs „Gezeichnete Bilder“ in der Albertina, einem der bedeutendsten Zeichnungsmuseen der Welt, „Gustav Klimt und die Kunstschau 1908“ in der Österreichischen Staatsgalerie Belvedere und die Retrospektive Christian Schad im Leopold Museum, das zu den wichtigsten Sammlungen moderner österreichischer Kunst zählt.
Zeichnen – ein lebenslanges, eigenständiges Experiment van Goghs
Mit Leihgaben aus aller Welt – insgesamt 51 Gemälden und 91 Zeichnungen - konnte die Albertina – in enger Partnerschaft mit dem Van Gogh Museum Amsterdam - nicht nur eine respektable Retrospektive bieten, übrigens die größte Van-Gogh-Ausstellung in Österreich seit mehr als 50 Jahren, sondern sie trug ein anspruchsvolles kunsthistorisches Konzept vor: Erstmals sollte gezeigt werden, dass van Goghs künstlerische Leistung von der Zeichnung bestimmt wird, dass die Zeichenkunst auf den unverwechselbaren Pinselduktus des Künstlers eingewirkt hat. Mit der emotionellen Handschrift seiner Linienströme und Strichbündel bindet van Gogh die Farbe noch stärker an den Duktus der Zeichnung, zwingt also die Grundelemente Farbe und Linie zu einer beständigen Steigerung.
In der Gegenüberstellung des gleichen Motivs von Zeichnung und Gemälde konnte der Betrachter so höchst aufschlussreiche Beobachtungen anstellen. Vergleicht man etwa eine Bleistift-Feder-Skizze, „Landschaft mit Haus und Bäumen“, mit dem Gemälde „Allee bei Arles“ (beide 1888), so hat sich in Letzterem die Perspektive mit Fluchtpunkten und Farbkontrasten deutlich verändert. Der Straßengraben führt den Blick vom ersten Baum der Allee, am gelben Gehöft vorbei, in die Tiefe. Die Allee scheint sich in den endlosen Himmel zu verlieren. Jedes dieser Motive ist mit einer anderen Pinselschrift festgehalten. Die kurzen gelben und hellblauen Strichlagen im Straßengraben, die punktartigen, aus dem helldunklen Grün hervorleuchtenden Rot- und Gelbakzente in der Baumkrone und der stakkatoartige Pinselwirbel im Himmel sind eigentlich grafische Elemente, die van Goghs Kunst seit seinem Pariser Aufenthalt 1886 erobert haben.
Früh schon, so in den Blättern aus dem Pfarrhausgarten im holländischen Nuenen (1884), hatte sich van Gogh als Zeichner emanzipiert. Er zeichnete mit der Feder und einer tiefschwarzen lithografischen Kreide Serien von Landschaften mit anthropomorphen Bäumen und erkannte, dass Linien, Punkte und Häkchen als Übersetzungsmittel für die Natur geeignet sind. In Paris, nach der Begegnung mit den Impressionisten, kam das Thema Farbe hinzu, seine Farbpalette veränderte sich radikal zugunsten hellerer Töne, und schließlich, als er dort auch seinen Strich modernisiert hatte, setzte ein Wettbewerb zwischen Zeichnung und Malerei ein. Erstmals integrierte er pointillistische Ausdrucksmittel wie Striche, Punkte und Linien unübersehbar in seine Malerei, verwendete mit haarfeinen Pinseln zeichnerische Werkzeuge.
Nach seiner Übersiedlung nach Arles 1888 besann er sich wieder auf das Papier, entdeckte die Rohrfeder und gestand der Zeichnungskunst eine neue Bedeutung zu. Mitunter hat er ein Bildmotiv in mehreren Zeichnungen mit unterschiedlichen grafischen Kürzeln versehen. Manchmal fehlt aber auch die Vorzeichnung, etwa in der „Landschaft mit Bäumen und Figuren“, die 1889 in Saint-Rémy-de-Provence oder 1890 in Auvers-sur-Oise entstand. Diese bis zum Äußersten vereinfachte Landschaft mit ihren rhythmisierenden Bäumen und den aufsteigenden, wogenden Zonen in Braun, Hell- und Dunkelgrün ist eine gemalte Zeichnung. Zeichnen bedeutete also für van Gogh nicht nur Vorbereitung, Skizze oder Nachzeichnung, sondern lebenslanges eigenständiges Experiment. Das Bildgerüst wird ebenso von der Zeichnung getragen wie von der farbigen Form, die selber Zeichen ist.
Der Katalog ist mehr als nur ein Begleitbuch zur Ausstellung, er ist ein Sammelwerk, das der Van-Gogh-Forschung neue Wege weist. Klaus Albrecht Schröder, der Direktor der Albertina, erläutert Idee und Konzept der Ausstellung, die jene Symbiose von Linie und Farbe in van Goghs „gezeichneten Bildern“ visualisieren will. Teio Meedendorp, der Verfasser des Sammlungskataloges der Van-Gogh-Zeichnungen am Kröller-Müller Museum Otterlo, beschäftigt sich mit dem „Anfang vom Anfang“ in van Goghs Schaffen, also mit den Jahren 1880-1883, in denen sich der Künstler hauptsächlich dem Zeichnen widmete und dabei Künstler, Freunde und Verwandte für sein Ziel einzuspannen versuchte, schnellstmöglich verkäufliche Ware zu produzieren.
Sjraar van Heugten, Sammlungsleiter des Van Gogh Museums Amsterdam, untersucht die wachsende Beziehung zwischen den Zeichnungen und den Gemälden van Goghs unter besonderer Berücksichtigung der mit der Feder ausgeführten Zeichnungen. Dem Einfluss, den der Dialog mit den Künstlerkollegen Paul Gauguin und Emile Bernard auf van Goghs Werk im Zeitraum von 1888 bis 1889 hatte, ein Einfluss, der nicht nur in seinen Gemälden, sondern auch in seinen Zeichnungen deutlich erkennbar wird, widmet sich Marije Vellekoop, ebenfalls vom Van Gogh Museum Amsterdam. Martin Bailey, Spezialist für van Goghs Beziehungen zu England und Kunstkritiker für „The Art Newspaper“, vollzieht nach, welchen Eindruck Arles und die umliegende Landschaft in diesem Zeitraum – 1888/89 – bei van Gogh hinterlassen haben. Schließlich sind aus diesen 15 Monaten, die der Künstler in Arles verbrachte, rund 190 Gemälde sowie 100 Zeichnungen und Aquarelle erhalten geblieben.
Wie van Gogh nun seinerseits in Arles und Saint-Rémy Gauguin und Bernard von seinen „gefühlvollen Linien“ zu überzeugen suchte, zeigt Fred Leeman, Spezialist für van Gogh und Emile Bernard. Der Kurator der Ausstellung, Heinz Widauer, spürt van Goghs „Zeichnen mit Linien, Farbe und Worten“ nach und erläutert, wie die wechselseitigen Beziehungen zwischen Zeichnungen und Gemälden im Werk van Goghs einen wesentlichen Anteil an der Herausbildung des individuellen und unverkennbaren Stils des Künstlers haben. Das Verzeichnis der ausgestellten Werke ist mit einem ausführlichen Kommentar versehen und wird als großzügiges Tafelwerk zur Anschauung gebracht.
Gehört die nuancenreiche Durchdringung von Naturbeobachtung und Abstraktion zu den großen Leistungen van Goghs, kommt der sentimentale Wiener Stilist Gustav Klimt aus der naturfernen Ateliertradition. Bei Klimt können völlig naturalistisch-akademische Elemente, wie der weibliche Akt, in ein abstrakt-dekoratives Gefüge eingebunden werden und wirken dort fast wie objets trouvés (Fundstücke). Landschaften von Klimt lassen die Natur gegenüber der ornamental-abstrakten, ganz auf die rhythmisierende Bewältigung der Bildfläche konzentrierten Absicht des Künstlers zurücktreten. Elementarteile verselbstständigen sich innerhalb des großen Naturzusammenhangs und stehen wie Symbole für Stein, Baum, Blatt, Horizont einander gegenüber, immer mehr ihre Eigenbedeutung innerhalb des aus lauter solchen Formeln korrespondierenden Ganzen betonend.
Ein Gesamtkunstwerk wird inszeniert
Die 1908 veranstaltete Kunstschau in Wien war der Höhepunkt des öffentlichen Wirkens der auch „Klimt-Gruppe“ genannten neuen Künstlervereinigung und der Anspruch einer künstlerischen Formung des „ganzen Lebens“. Der gesamte Lebenszusammenhang sollte von der Kunst erfasst und durch sie gestaltet werden. Der von Josef Hoffmann geplante Ausstellungskomplex umfasste verschiedenartigste Schauen (Malerei, Skulptur, Grafik, Kunstgewerbe und Theaterdekoration) mit zahlreichen peripheren Bauten. Mit der Kunstschau 1908 konnten Klimt und Josef Hoffmann ihren großen Traum vom Gesamtkunstwerk, von der Durchdringung des Lebens mit allen Medien der Kunst, Wirklichkeit werden lassen. Die Kunstschau öffnete sich nicht nur der Wiener Werkstätte und der Kunstgewerbeschule, sondern auch neuen künstlerischen Strömungen. Mit Oskar Kokoschka und Egon Schiele kündigte sich bereits eine neue Generation der Wiener Moderne an, deren Expressionismus entschieden mit dem ästhetischen Wohlklang der Stilisten um Klimt brach.
Das Belvedere suchte die Kunstschau anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens zu rekonstruieren und zeigte einen Großteil der ursprünglichen Exponate, zum Teil in Nachbauten der Ausstellungsräumlichkeiten. Vollständig wiedererstanden war der „Raum 50“ mit Werken der führenden Mitglieder der Wiener Werkstätte, der „Raum 10“ mit über 100 reproduzierten Plakaten und der von Koloman Moser gestaltete „Raum 22“ mit Hauptwerken von Gustav Klimt – unbestreitbar der Höhepunkt dieser Schau.
Klimt hängte damals seine wichtigsten allegorischen Gemälde im goldenen Stil zwischen die Landschaftsbilder vom Attersee. Der „Kuß“ (1907/08), in dem die Liebenden ins Reich der religiösen Ikonografie entrückt sind, war ein spontaner Erfolg und wurde sofort vom Staat angekauft. Dargestellt ist das ewige Paar Adam und Eva, ein heiliges Bild der Liebe. Es wurde gesagt, das Modell für den Adam sei Klimt selbst, er halte seine Freundin Emilie Flöge in seinen Armen. Dem „Kuß“ stellte er sein 1905 geschaffenes Bild „Die drei Lebensalter“ (1905) gegenüber – Kind, Mutter und Alternde vergegenwärtigen hier den Gedanken der Erwartung, Erfüllung und Verabschiedung des Lebens. In diesen „Menschheitsallegorien“, so nennt sie Werner Hofmann, ist der Tod allgegenwärtig.
In den Porträts von Fritza Riedler oder Adele Bloch-Bauer sind nur die Gesichter und Hände der Modelle in dreidimensionalem Realismus dargestellt. Der sie umgebende Raum wird von der Abstufung fantastischer Ornamente und Farbfelder eingenommen. Diese ebnen die gemalte Oberfläche ein, lösen kompakte Massen auf. Mit ihren weit geöffneten Augen und nervösen Händen sind diese Frauen ganz die ruhelosen, unerfüllten Gefangenen ihres Ranges und Reichtums. Obwohl sich Klimt vom Ästhetizismus niemals lossagen konnte, hat er sich den Veränderungen der Kunst in Wien keineswegs verweigert, manches aufgegriffen und sich angeeignet.
Umfassend dokumentiert der Katalog die Kunstschau von 1908 in Wort und Bild. Agnes Husslein-Arco, die Direktorin von Belvedere, schreibt über „Die Kunstschau 1908 als Manifest der Lebensreform-Idee vom Gesamtkunstwerk“, Alfred Weidinger, Kurator der Ausstellung, über die Entstehungsgeschichte der Kunstschau, aber auch speziell über deren Plakatraum, Hans Bisanz über den Kaiserjubiläums-Huldigungsfestzug 1908, Markus Kristan über die Architektur der damaligen Kunstschau, Rolf Laven über die Werke der Cizek’schen Jugendkunstklasse auf der Kunstschau 1908, Jan Mohr über Franz Metzner und die Kunstschau 1908, Dietrun Otten über die Klimt-Gruppe und damit über die Malerei auf der Kunstschau 1908, Katharina Schoeller über die „allgemeine Architektur“ der Kunstschau 1908, Rainald Franz über Leopold Forstner und die Kunstschau 1908, Hermi Schedlmayer über Otto Prutscher, Pavel Jirasek über das künstlerische Spielzeug auf der Kunstschau, Ernst Ploil und Elisabeth Schmuttermeier über die Wiener Werkstätte auf der Kunstschau 1908. Die wichtigsten Räume der damaligen Kunstschau werden vorgestellt und die Biografien der ausstellenden Künstler und ausführenden Professionisten erschlossen.
Schads Porträts - Ikonen der 1920er-Jahre
Dem deutschen Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit Christian Schad widmete das Leopold Museum eine große Retrospektive – es ist die erste umfassende Ausstellung in Österreich überhaupt. Als wichtigster Kooperationspartner und Hauptleihgeber fungierte die Christian-Schad-Stiftung in Aschaffenburg. Die Retrospektive stellte etwa 130 Werke von Schad Vergleichsbeispielen von Zeitgenossen gegenüber, darunter Max Beckmann, Otto Dix oder Laszlo Moholy-Nagy.
Nicht als Abbild von Wirklichkeit, sondern als „Sinnbilder“ wollte Schad seine Werke verstanden wissen. „Papst Pius XI.“ (1925) machte ihn berühmt. Sein bekanntestes Werk, das „Selbstporträt im durchsichtigen grünen Hemd mit Modell“ (1927) mit einer fiktiven Pariser Kulisse, stammt aus seiner Wiener Zeit. Die beiden Figuren sehen einander nicht an, bleiben einander fremd, auch wenn die Gefährtin durch einen Rasiermesserschnitt als Eigentum ihres Liebhabers gekennzeichnet ist, selbst der Liebesakt kann sie nicht verbinden. Die unterkühlte Art der Darstellung, die scharf isolierende Nahsicht, gepaart mit psychologischer Durchdringung und einer makellosen Oberfläche, wurde dann auch zu einem Signum seiner in Berlin entstandenen Porträts. „Maika“ (1929) stellt eine selbstbewusste junge Frau mit Bubikopf, schulterfreiem schwarzen Kleid, einer großen Ansteckrose und einem Tattoo in der Ellenbeuge vor, das sich bei genauerem Hinsehen als Signatur des Künstlers erweist.
Den Außenseitern der Gesellschaft gehörte Schads besonderes Interesse. Er fand sie in „Agosta der Flügelmensch und Rasha die schwarze Taube“ (1929), zwei Figuren, die auf einem Berliner Jahrmarkt auftraten. Schad hat sie aller Romantik entkleidet, nüchtern wie Objekte gemalt, Objekte unserer Neugier, unseres Begehrens oder Ekels. Auch mit einer nach ihm benannten Technik schrieb er sich in die Kunstgeschichte ein. Die „Schadographien“, die nach 1917 entstanden, sind Fotogramme mit objets trouvés, die auf direkt belichtetes Fotopapier gelegt wurden. Sie sind sein wichtigster Beitrag zur Kunst des Dadaismus in seiner Genfer Zeit. Aufgrund seiner fast ein Jahrhundert umspannenden Lebensdaten profitierte dieser unglaublich experimentierfreudige Künstler von einer außergewöhnlichen Bandbreite künstlerischer Einflüsse – vom Expressionismus, Dadaismus und Kubismus über den Futurismus und die Pop-Art bis hin zum Fantastischen Realismus.
Es wurde in Wien eine Neubewertung seines oft verkannten Spätwerks versucht, in dem Schad noch einmal zum Realismus zurückkehrte, und zwar geprägt durch eine collageartige Malweise, die Kombination von Motiven und symbolistische Inhalte. Aber diese letzten Räume durcheilte der Besucher nur noch, die neusachlichen Porträts der 20er-Jahre markieren nach wie vor die Höhepunkte seines Werkes. Dass er von vielen Künstlern in der DDR – so von Ulrich Hachulla – hoch geschätzt wurde und auch heute noch junge Künstler wie Hachullas ehemaliger Meisterschüler Michael Triegel Techniken und Motive Schads verwenden, zeigte der Epilog dieser extensiven Schau, der eine Konzentration auf das originär Wesentliche wohl besser angestanden hätte.
Der Katalog enthält Beiträge von Thomas Ratzka, dem Verfasser des Werkverzeichnisses von Christian Schad (Christian Schads künstlerische Entwicklung bis 1945), Thomas Richter (Christian Schad und Aschaffenburg), Michael Fuhr, zusammen mit Rudolf Leopold Kurator der Ausstellung (Schads Spätwerk im Kontext und seine Bedeutung für die realistische Malerei der Gegenwart), Anna Auer (Die Kunst des Fotogramms) sowie das kommentierte und reich illustrierte Verzeichnis der ausgestellten Werke.
Literaturangaben:
VAN GOGH. Gezeichnete Bilder. Katalog zur Ausstellung in der Albertina, Wien 2008. Hrsg. von Klaus A. Schröder, Heinz Widauer, Sjraar van Heugten u. a. DuMont Buchverlag, Köln 2008. 455 S., 24,90 Euro.
HUSSLEIN-ARCO, AGNES/WEIDINGER, ALFRED (Hrsg.): Gustav Klimt und die Kunstschau 1908. Katalog zur Ausstellung auf Schloß Belvedere, 2008/2009. Prestel Verlag, München, Berlin 2008. 559 S., 38 Euro.
CHRISTIAN SCHAD. Retrospektive. Leben und Werk im Kontext. Katalog zur Ausstellung im Leopold Museum Wien. Wienand Verlag, Köln 2008. 301 S. 29,80 Euro.
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