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In der Türkei bereits Kult

Elif Shafak mit ihrem neuen Roman „Spiegel der Stadt“

© Die Berliner Literaturkritik, 25.11.04

 

"Ein Buch spricht seine eigene Sprache, findet seinen eigenen Weg. Wenn es das nicht tut, verschwindet es." - sagt Rabbi Yakup, eine der Hauptfiguren im Roman Spiegel der Stadt. Als Elif Shafak 1997 in der Türkei mit ihrem Debutroman Pinhan in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des breiten Publikums rückte, ihr Buch also seine eigene Sprache zu sprechen und sich seinen eigenen Weg zu bahnen begann, konnte man nicht ahnen, dass die in beinahe jährlichem Rhythmus aufeinander folgenden Romane der jungen Autorin sehr bald als Meilensteine einer von Neuem aufbrechenden türkischen Moderne gelten würden. Die Autorin selbst, die überwiegend im westlichen Europa aufwuchs, wurde in kurzer Zeit eine der wichtigsten Repräsentantinnen der jüngeren, über die Landesgrenzen hinauswachsenden Literaturszene der Türkei. Die überraschend verliehene Auszeichnung der türkischen Mewlana Gesellschaft würdigte den islamische Mystik thematisierenden Roman 1998 mit dem Hauptpreis und sicherte der Autorin die Aufmerksamkeit aller Gruppen des ansonsten tief gespaltenen türkischen Lesepublikums.

Die 1971 in Straßburg geborene Elif Shafak ist in der Türkei inzwischen eine Kultautorin geworden. Auch in den USA, wo sie in den letzten Jahren lebt, hat sie sich in kurzer Zeit als Wissenschaftlerin und Literatin einen Namen gemacht, und sie publiziert dort regelmäßig in renommierten Zeitschriften soziokulturelle und politisch-philosophische Texte. Ihre Romane werden aufeinander folgend verlegt, und sie hält landesweit Lesungen und Vorträge. Auch in Europa zieht sie Aufmerksamkeit auf sich und auf ihre Werke, und ihre Romane erscheinen außer in Deutschland auch in England, Frankreich und Griechenland. (Beatrix Caner)

 

 

Das Copyright für den folgenden Text liegt bei dem Literaturca Verlag.

 

 

DIE HOFFNUNG

Es ist sehr wohl eine Frage, ob die Gräser grün,

das Meer blau und der Himmel wolkenlos ist.

Wer behauptet denn, all das sei keine Frage?

Sait Faik Abasýyanik

 

Scheich Süleyman Sedef Efendi zog sich in den heißesten Stunden des Tages, am frühen Nachmittag, in sein Zimmer im ersten Stock zurück und tauchte in seine Einsamkeit ein. Bevor die Sonne unterging und die roten Strahlen der versinkenden Sonne sein Haar streichelten, verließ er sein Zimmer nicht. Deshalb verwunderte es seine Tochter Zühriye sehr, dass Haham Yakup, der diese Gewohnheit ihres Vaters sehr gut kannte, zu dieser Stunde unerwartet zu Besuch kam. Was aber das junge Mädchen noch mehr in Erstaunen versetzte, war die Verzweiflung in den Augen des Rabbi, dessen Ausgeglichenheit sie seit Jahren als trostreich empfand. Schmerz hatte sich in den Augen des Haham eingenistet. Er schien nicht zu merken, wie spät es war, ebenso wenig, dass er sich in einem Derwischkloster befand. Sein Zustand beeindruckte Zühriye so sehr, dass sie mit einem plötzlichen Entschluss ihr Zimmer verließ und ganz leise, auf den Zehenspitzen die Treppen zu ihrem Vater hochstieg. Eine Weile stand sie vor der Tür herum wie eine Katze, die nach einem Spalt, durch den sie den Kopf stecken könnte, sucht. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und öffnete einen Spalt breit die Tür und schlich sich hinein. Zum ersten Mal ging sie ins Zimmer ihres Vaters, während er arbeitete. Doch weil sie meinte, dass auch ihr Vater den Rabbi nicht länger warten ließe, wenn er die Traurigkeit in dessen Augen sehen würde, fühlte sie sich nicht schuldig. Doch im gleichen Augenblick, als sie ins Zimmer trat, erstarrte sie. Ihr Vater war nicht im Zimmer. Die Bücher waren da, die Rohrflöte und die Tambour waren auch da. Der mächtige Schatten von Scheich Süleyman Sedef Efendi fiel auf den Sedir, auch seine golden glänzende Wasserpfeife und sein typischer Geruch waren da. Er selbst aber war nicht da. Das Zimmer war, obwohl es voll war, völlig leer.

Als sie zurückging, dachte sie nach, was sie Haham Efendi sagen würde. Sie fand ihn am Fensterrand sitzend. Er kauerte sich zusammen und war in sich zusammengefallen. Er schien die Aufregung von Zühre gar nicht bemerkt zu haben. Zühre seufzte besorgt. Zum Glück trat in diesem Augenblick Ziþan Kadin mit einem Silbertablett in der Hand ins Zimmer, das war ihre Rettung. Diese alte Frau, die seit Jahren die Küche des Derwischklosters führte, bot dem Rabbi eigenhändig bereiteten Kaffee an. Sie genehmigte sich auch eine Tasse. Sie saßen sich gegenüber, und ohne ein Wort zu sagen, blickten sie gedankenverloren aus dem Fenster. Sie sprachen die gleiche Sprache: nicht aus dem Kaffeesatz, vielmehr aus den lauen, durch ihre Kehlen fließenden Schlückchen wahrsagten sie die Zukunft. Zühre fühlte sich plötzlich hoffnungslos und einsam.

Als die untergehende Sonne im weißen Bart und den schwer gewordenen Augenlidern des Rabbi ihre Scherze spielte, trat Scheich Süleyman Sedef Efendi aus seinem Zimmer.

»Hoffentlich störe ich nicht«, fragte der Haham kleinlaut aber freudig.

»Ich bitte Sie! Im Gegenteil, ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

 

 

»Wieder das gleiche Problem?«

Haham Yakup nickte bejahend. Sie schwiegen und überließen sich der Stille, die vom Zimmer Besitz ergriff. Zühre lief hinter Ziþan Kadin her, die wieder in ihre Küche verschwand. Sie blieben allein. Nach einer ganzen Weile stand Scheich Süleyman Sedef Efendi gemächlich auf und brachte eine silberne Schale. Die Augen des Rabbi glänzten. Er wusste, dass der Scheich vor Jahren geschworen hatte, nie mehr wahrzusagen, doch jetzt brach er seinetwegen dieses Versprechen. Er war ihm dankbar. Scheich Süleyman Sedef Efendi zog eine große Portion Rauch aus seiner Wasserpfeife. Er inhalierte tief und ließ den Rauch lange in seinem Inneren verweilen. In jedem Winkel seines Körpers ließ er den Rauch innehalten und fügte ihm ein Stück seines Selbst bei. Dann, als wäre er besorgt, ihn zu verletzten, ließ er den Rauch bedachtsam auf die Wasseroberfläche steigen. Der Rauch ringelte sich auf dem Wasser und nahm dann Hunderte Formen an, verwandelte sich in Hunderte Bilder und brachte Botschaften aus Hunderten Zeiten. Der Haham hielt seinen Atem an und wartete ehrfürchtig. Der Scheich sortierte die unter den Hunderten zufällig hierher verirrten Bilder aus. Das dauerte eine ganze Weile und beanspruchte recht viel Kraft, so dass er am Ende ziemlich erschöpft war. Schließlich blieb ein einziges Bild übrig. Scheich Süleyman Sedef Efendi schaute mit einem liebkosenden Blick auf den sich leise strudelnden Rauch.

»Dieser junge Mann ist Hoffnung für sie«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Ach!«, rief der Rabbi. »Aber die Hoffnung ist eine ernste Frage. Hoffnung ist gefährlich.«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und fügte hinzu: »Insbesondere ist die Hoffnung für jene gefährlich, die die eigene Hoffnung aufgegeben haben.«

 

LUNA

Ich wusste, dass ich Ehebruch beging,

denn was ich liebte,

befand sich außerhalb meiner Wohnung.

Jeanette Winterson, Das Geschlecht der Kirsche

 

Er öffnete die Tabakdose einen winzigen Spalt und warf einen Blick auf die zwei Reste des Schattens von Sultan Murad. Heute waren sie aus irgendeinem Grund still. Er machte die Dose gleich wieder zu. Weil sie manchmal zu fliehen versuchten, verschloss er die Tabakdose in einer goldenen Büchse. Er atmete auf. Sultanin Kösem war in letzter Zeit ziemlich argwöhnisch. Kösem Mahpeyker Valide Sultan, die Tochter eines griechischen Priesters, hatte es in einem einzigen Leben zu vielen Namen gebracht, denn kaum dass sie, Anastasia, in die Hände des Generalgouverneurs von Bosnien gefallen war, zog sie durch ihre Schönheit, ihr sonniges Gemüt und ihre Redegewandtheit alle Aufmerksamkeit auf sich und wurde dem Palast übereignet. Sie war die Frau von Sultan Ahmed I., Mutter von Murad IV. und Ibrahim. Nun war sie entschlossen, alles Nötige zu unternehmen, damit das Land nicht führungslos und der Thron nicht ohne Nachfolger blieben. Schade, dass Sultan Ibrahim Han sowohl den Bedenken seiner Mutter als auch den Bedürfnissen des Landes gegenüber höchst gleichgültig war. Ibrahim Han, der als einziger Thronfolger am Leben geblieben war, nachdem sein älterer Bruder, Murad IV., seine Brüder Süleyman, Kasim und Bayezid nacheinander hatte ertränken lassen, und der genau dreiundzwanzig Jahre lang im Palast gefangen gehalten worden war, keine ordentliche Ausbildung erhalten, nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte, Istanbul kennen zu lernen, geschweige denn die Vorgänge im Land… Jener Sultan Ibrahim Han, der zwar durch die Vorkehrungen seiner Mutter und den plötzlichen Tod seines Bruders dem Tod durch Ertränken entgangen war, der aber die Angst nicht überwinden konnte und, als er gebeten wurde, den Thron zu besteigen, fürchtete ertränkt zu werden, weshalb er seinen Käfig nicht verlassen wollte und wie ein Huhn zappelte, der sich erst beruhigte, als er die Leiche Murads sah, dann, ohne sich um jene zu kümmern, die ihn schief beäugten, hopsend und tanzend ins Herrscherzimmer ging und sich auf den Thron setzte, der sich von den Haremsdamen so fern wie nur möglich hielt und die wunderschönen Frauen nicht einmal berührte, dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand und der an jedem und allem zweifelte…  Jener Sultan Ibrahim Han, der, als die kasakischen Piraten, die die aus der Schwarzmeerregion Lebensmittel in die Hauptstadt transportierenden Schiffe ausraubten, in verschiedenen Stadtteilen Istanbuls gepfählt wurden, als der heftige, aus der Richtung des Macuncu Hamami wehende Wind die Bleiplatten der Dächer abdeckte und ihren Platz den Verwüstungen hinterließ, als aus den Wachsziehereien am Balat Kapisi die Flammen des Großen Brandes die Bosporusvillen der Reihe nach anfachten, zum eigentlichen Grund aller dieser in kurzem Abstand hereinbrechenden Unglücksfälle und Katastrophen erklärt wurde…  Sultan Ibrahim Han, der in den Augen von Kösem als ein blattloser Ast auf ihrem Stammbaum, als ein kranker Mensch galt, der aber so schnell wie möglich einen Thronfolger zeugen und in die Leere, in die er gehörte, zurückkehren sollte…

 

Als eine der Sklavinnen die Jüdin anmeldete, tauchte Kösem aus den Tiefen ihrer Gedanken auf. Sie hörte davon, dass diese Frau eine Lösung für das Problem ihres Sohnes sein könnte. Sie wusste eine Menge über sie, denn sie liebte es, die Geschichten anderer zu erfahren. Sie war überzeugt, dass wenn sie die Vergangenheit der Menschen kannte, sie ihr jetziges Tun besser verstehen würde, sodass sie durch ihre Taten nicht überrascht, sondern darauf  vorbereitet sein würde. Deshalb hatte sie auch über die Jüdin eine Menge in Erfahrung gebracht. Dass sie ihr Wissen von einer alten Muslima gelernt hatte und dass sie in der Vergangenheit sehr viel Leid erfahren hatte. Sie liebte solche Menschen. Sie wusste, dass jene, die sich kämpferisch gegen das Schicksal auflehnen, in ihrer Vergangenheit eine Reihe von Verletzungen erfahren haben.

Kösem Sultan beobachtete die junge Frau, die vor ihr stand, sehr aufmerksam. Die junge Frau wandte ihre riesigen, schwarzen Augen auf die Fransen des Perserteppichs, beugte sich demütig vor und wartete.

»Ich weiß nicht, was du zurückgelassen hast, als du hierher gekommen bist. Doch wenn du eine Lösung für das Problem meines Sohnes findest, werde ich dich so reich belohnen, dass dein künftiges Leben viel schöner sein wird als das zurückgelassene, das sei dir versichert.«

Als Isabel Nuñez Alvarez die Augen von Kösem Sultan sah, war sie längst entschlossen, durch die sich ihr öffnende Tür zu gehen. Als Kösem Sultan die Augen von Isabel Nuñez Alvarez sah, wusste sie, dass sie beide aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Sie wusste, dass sie nicht nur die Lösung für das Problem ihres Sohnes finden, sondern auch eine unter Frauen höchst seltene Freundschaft gewinnen würde. Sie sah lächelnd auf Mihrengiz Kadin. Ab sofort würde sie sich um alle Anliegen von Isabel kümmern und für ihr Wohl Sorge tragen. Mihrengiz Kadin und Isabel waren gerade im Begriff, sich zu entfernen, als Kösem Sultan leise fragte:

»Hast du einen anderen Namen, außer dem, den ich kenne?«

»Ja, meine Sultanin«, antwortete Isabel. »Früher nannten mich einige Menschen Luna.«

Kösem Sultan sagte kein Wort, deutete nur mit der Hand an, dass sie sich entfernen dürften. Als sie allein war, schloss sie die Augen. Mit einem besorgten Lächeln spitzte sie die Ohren für die herzzerreißenden Klagen, die aus der Tabakdose drangen, für die Zechgelage in bestimmten Häusern, für die nahenden Würmer, die am Thron nagten, für das Trällern des Wiedehopfs, der Botschaften zwischen König Salomon und der Königin von Saba brachte, für die Intrigen im Harem, für die Gebete, die an den doppelköpfigen Marmorsarkophagen gebetet wurden, für die Geheimnisse, die an den Votivbäumen geflüstert wurden, für die Klagelieder, die nach den Katastrophen blieben, für die wutentbrannten Aufrufe der Rebellen und für die Splitter, die von den zerbrochenen Spiegeln zurückblieben. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hörte sie noch sehr gut.

 

[...]

 

BEIM SONNENUNTERGANG

… trotz meiner geopferten Haare

bin ich so sehr Frau.

Colette, Diese Freuden

 

Die Sonne ging unter. Die wilden und frechen Wellen stiegen übereinander, damit sie mehr von ihr ergattern konnten, während die Sonne im Wasser, wie Tinte verlaufend, sich leise auflösend, unterging.

Sie schaute auf die Sonne. Von einem der Zimmer auf der Meeresseite eines Herrenhauses in Galata, das man, im Vergleich zu ähnlichen Häusern, bescheiden nennen könnte, schaute sie, wie der Bosporus die Sonne verschluckte. Sie wusste, dass wenn die Sonne im Meer versank und aus den Augen verschwand, sie zweigeteilt würde. Dann also, in jenem Augenblick, würden die Zeit des Meeres und die Zeit der Sonne verschieden sein. Verschieden sein, denn manchmal geschah es, dass sich die Zeit von Zeit zu Zeit aus zwei verschiedenen Richtungen drehte. Für den einen von Ost nach West, für den anderen von West nach Ost. Genau wie in jener zurückgelassenen Straße an jenem Tag.

»Glaubst du, du bist der einzige, der Angst hat?«

Die Jahre, die seitdem vergangen waren, boten genug Gelegenheit, wenn nicht die riesengroße Vergangenheit, so doch zumindest einen Teil davon, einen Augenblick lediglich, gründlich zu überdenken. Dennoch war sie nicht sicher, die Antwort auf jene heikle Frage gefunden zu haben. Ob sie an jenem Tag, dort, als sie ihn daran hindern wollte, zu gehen, und sich ihm in den Weg stellte, als sie die Arme ausbreitete und sich vor die Tür stellte, dies nur tat, weil sie ihn so sehr begehrte oder um sich selbst zu beweisen, dass sie Verlangen empfinden konnte? Obwohl sie nicht sicher war, dass sie auf die Erwiderung ihrer Leidenschaft zählen konnte, und obwohl sie wusste, dass, wenn das nicht der Fall wäre, sie verkümmern würde, wenn es aber der Fall wäre, sie von den Folgen erdrückt werden würde, wieso tat sie dennoch jene provokative Geste? Zwei unterschiedliche Antworten lagen auf ihrer Zunge, die zwei Wege gingen, zwei Göttern dienten.

Auf dem einen Weg schlenderten Schatten seines schönen Gesichts, seiner krausen, pechschwarzen Haare und seiner sonnengebräunten Haut. Das war das Wesentliche, der Augenblick mit ihm. Der Grund für ihre Handlung war, dass sie ihre Liebe für ihn nicht weiter verbergen konnte. Auf dem anderen Weg hallte das Kreischen der in den Jahren in ihr aufgestapelten Leiden und des verjährten Misstrauens wider. Das Wesentliche war das Gestern, das dem Heute vorausging. Demnach also war der einzige Grund für ihr damaliges Handeln ihre Starrköpfigkeit, die erstbeste Tür, hinter der sie die Konfrontation mit ihren Selbstzweifeln aufzustoßen vermochte. Die erste Tür… die vierzigste Tür…

Am Morgen nach der Hochzeitsnacht setzte der Prinz seine Frau auf seine Knie. »Du kannst in allen diesen Zimmern nach Lust und Laune herumgehen, tun und lassen, was du willst.« sagte er. »Doch hüte dich davor, die Tür des vierzigsten Zimmers öffnen zu wollen, öffne die Tür des vierzigsten Zimmers nicht!« »In Ordnung«, sagte die junge Frau artig. Doch als ihr Mann das Haus verließ, lief sie sofort zum vierzigsten Zimmer. Doch welch ein Wunder! Die Tür war sowieso offen.

 

Die Zeit war anders für die Sonne, anders für das Meer.

Doch welche von zwei Antworten war die richtige?

 

Als sie in dem fensterlosen, großen, dunklen Zimmer dem Inquisitor, dessen Gesicht sie kaum sehen konnte, gegenüberstand und von Todesangst gepeinigt in Schweiß ausbrach, dachte sie keine Sekunde daran, die Schachtel, die sie im Eimer des Brunnens versteckt hatte, auszuhändigen. Ein Kieselstein mit blauen Adern, nur einer von Dutzenden, Hunderten von Steinen/das Bild eines Ritters, ein Held, der die Riesen bezwang/-eine Haarspange, von der sie nicht einmal wusste, weshalb sie sie aufhob/eine Hand voll Haare von Andres, der erste Schnitt/ einige voll geschriebene Seiten, die Geschichten anderer/und ein Laken mit den Konturen ihres Körpers. Warum hatte sie ihre Körperkonturen auf das Laken gezeichnet? Um sich selbst zu beweisen, dass sie sich von anderen Frauen in nichts unterschied, dass, wenn alles in Ordnung war, auch sie verführerisch und atemberaubend sein konnte und mindestens genauso viel Vergnügen empfinden und bereiten konnte wie sie? Ein Körper, genau wie die anderer Frauen auch… Mit allem, was sie hatte, genauso. Mit allem…? Warum zeichnete sie sich auf jenes Laken? Um sicher zu sein, dass die Fehler bei den anderen lagen? Warum hatte sie in ihrem Leben niemanden geliebt, feurig und leidenschaftlich? Warum wollte sie sich nicht ihrem Mann völlig  widmen, oder ihrem Sohn, oder aber dem Geliebten - der vierzigsten Tür? Als sie geheiratet hatte, als sie Andres geboren hatte, hatte sie sich ebenso wenig als Mutter gefühlt, wie sie sich nicht sicher war, schuldig zu sein, als sie jene furchtbare Sünde beging. Weder als sie normal war, noch als ihr Verrücktheit bescheinigt wurde, fühlte sie, was sie fühlen sollte.

Nicht zu fühlen ist manchmal ein Vorteil, man kann sich die abgefrorenen Gliedmaßen nicht abschneiden.

Nicht zu fühlen ist manchmal eine Strafe, man kann sich die abgefrorenen Gliedmaßen nicht abschneiden.

 

Die Sonne ging unter. Als sie im Meer versank, als die Zeit sich gerade zweiteilte, sprach Isabel zu sich selbst: »Isabel! Kann es sein, dass das Problem in dir selbst liegt? Nicht, dass du aus diesem Grund… nur aus diesem Grund… Denn du kennst weder Liebe, noch Leidenschaft, noch Begehren… weder Ohnmachtszenen, noch Herzensangelegenheiten, noch feuchte Träume. Kann dir all das zusammen so fern liegen?«

Weil sie ihn so sehr begehrt hatte, empfand sie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Wollust, oder begehrte sie ihn, weil sie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Wollust empfand? Und warum hatte sie ihm ihr einziges Kleinod gegeben, den ihr von der Alten anvertrauten Mondstein?

 

*

 

Eine der Sklavinnen kam herein. Auf dem Tablett in ihrer Hand brachte sie Kaffee und eine rauchende Pfeife. Isabel lächelte sie an. Die Sklavin lächelte verlegen zurück und stellte das Tablett auf die Kupferplatte des niedrigen Tisches. Sie hieß Serfiraz. Mihrengiz Kadin, die sie in ihrer Villa aufgenommen hatte, hatte sie ihr für die Verrichtung aller Arbeiten zur Verfügung gestellt. Mihrengiz Kadin war ziemlich reich, sie hatte eine ganze Reihe von Villen in den verschiedenen Vierteln von Istanbul. Als sie ihr anbot, entweder mit ihr hier zu leben oder in einer ihrer Villen, wählte Isabel ohne zu zögern dieses Haus in Galata. Das Haus hier war viel kleiner und bescheidener als die Villen in den anderen Vierteln. Der Grund für ihre Entscheidung war, dass sie hier den Sonnenuntergang in sich aufsaugen konnte und dass sie glaubte, durch die engen Gassen hinter dem Haus einen Weg in die Welt der Alten für sich bahnen zu können. Denn in Galata wohnten zwischen der arabischen Moschee und dem Galata Turm Muslime, die aus Andalusien eingewandert waren.

Als Serfiraz hustete, tauchte sie aus ihren Gedanken auf. Sie wartete dort, um zu erfahren, ob sie noch einen Wunsch hätte. Ihre blonden, über die Schultern fließenden Haare brachten Licht ins Zimmer. Ihre Wimpern, die ihre großen, grünen Augen umgaben, ihre kräftigen, dicken Augenbrauen und der zarte Flaum, der als dünne Linie bis zu ihrem Nacken reichte, ja sogar ihre traurigen, ausdrucksvollen Blicke schienen von diesem Blond nicht abweichen zu wollen und entschieden sich für die gelbe Farbe. Auf dem Kinn hatte sie ein winziges Grübchen, und weil sie selten sprach, blieb es den ganzen Tag lang unbewegt. Mihrengiz Kadin hatte erzählt, dass sie seit ihrer frühesten Kindheit in ihrem Dienst stand. Isabel lächelte ihr wieder zu. Dann bat sie um eine weitere Tasse und eine Pfeife. Serfiraz schaute sie aus riesengroßen Augen an und fragte, ob sie Besuch erwartete.

»Nein«, sagte Isabel. »Nicht für einen Gast, sondern für dich.«

Serfiraz konnte ihre Überraschung nicht verbergen, aber ohne weiter zu fragen, ging sie aus dem Zimmer. Kurze Zeit später kam sie mit einer weiteren Tasse Kaffee und einer Pfeife zurück. Als wüsste sie nicht, was sie damit tun sollte, stand sie so da. Nachdem sich Isabel auf den Boden gesetzt hatte, wies sie ihr auf dem gegenüberliegenden Kissen einen Platz. Während sie gemeinsam ihren Kaffee tranken, sprachen sie kein Wort. Doch daran, wie sie ihre Pfeife hielt, wie sie den Rauch inhalierte, und wie dieser durch ihre kleinen, rosafarbenen Lippen herauskräuselte, wie sie ihre Augen schloss und in Rausch geriet, merkte Isabel, dass Serfiraz nicht so unschuldig und naiv war, wie sie aussah. Zudem hatte Mihrengiz Kadýn, als sie sie ihr gab, gesagt: »Serfiraz ist in allen Sachen eine Meisterin. Sie ist die perfekte Dienerin.«

Sie wusste von dem Gerede über Mihrengiz Kadin. Man erzählte, dass sie die rechte Hand von Meleki Kadýn war, die wiederum sehr viel Ansehen genoss, dass sie ihren Geschlechtsgenossinnen besondere Aufmerksamkeit schenkte, dass sie alles Schöne liebte und damit Berühmtheit erlangte. Sie spürte genau, dass die genaue Befolgung des Befehls Sultanin Kösem  für diese verschlagene Frau nicht der einzige Grund dafür sein konnte, ihr ihre Villen und Sklavinnen zur Verfügung zu stellen und ihre großzügige Gastfreundschaft anzubieten. Im Grunde störte sie das wenig, da sie Mihrengiz Kadin sowieso nur selten sah und dann auch nicht vor ihr erstickte oder herumstotterte. Mehr noch, der Gedanke, in die Kreise dieser Frau eingeführt zu werden, durch sie die Gunst der Sultanin Mutter zu erlangen, genügte, um ihr Blut in Wallung zu bringen. Sie konnte die nächste Begegnung mit Kösem Sultan kaum erwarten. Das Elixier war fertig. Sie hat den Atem der Alten eingehaucht. Ihr einziges Bedürfnis war jetzt, die Flasche zu finden, in die sie das Elixier füllen könnte. Sie suchte nach der dünnen, langen, lilafarbenen Flasche, die sie in ihrem Traum gesehen hatte.

Nachdem Serfiraz mit ihrem Kaffee fertig war, bat sie um Erlaubnis, sich zu entfernen, und stand auf. Der aus der Pfeife aufsteigende Rauch versuchte zu erzählen, dass noch Tabak zum Rauchen vorhanden wäre. Die Sklavin schaute sie nochmals an, bevor sie das Zimmer verließ. Sie sah sie zum ersten Mal aus solcher Nähe, so direkt. Sie schien zu versuchen, Isabels Gedanken zu lesen. Isabel spürte plötzlich Misstrauen. Vielleicht hatte sich Mihrengiz Kadin getäuscht. Vielleicht war Serfiraz ein kleines Mädchen, das hinter der Geschwindigkeit ihres Körpers zurück geblieben war, ein kleines Mädchen, das zu schnell wuchs. Ihr Herz krampfte sich zusammen, sie wandte ihren Kopf weg.

 

Ein kleines Mädchen…

Das viel gelitten hat…

 

Sie ärgerte sich nicht über sich. Sie versuchte lediglich, zu verstehen. Was sie anderen nicht erzählen konnte, weil sie wusste, dass sie nicht verstanden werden würde, das behielt sie für sich. Wem hätte sie erzählen können, warum sie nach Antonio nie Sehnsucht hatte, warum sie einzig die Erinnerung an Miguel als eine schöne Erinnerung behalten wollte, und warum sie nicht an ihren eigenen Sohn denken wollte? Sie wollte sich nicht böse sein. Sie versuchte lediglich, zu verstehen. Warum waren ihr Wut und Leidenschaft, Liebe und Hass so fremd? War ihr Charakter schlecht? Wenn der Fluss Duero eingefroren war, musste er sich der Sonne ausliefern, nur weil er wusste, dass er fließen müsste?

 

Jeden Abend um diese Stunde, wenn die Sonne im Meer verschwand und die Zeit sich entzweite, trank sie ihren Kaffee und rauchte ihre Pfeife, erinnerte sich an Dinge, an die sie sich erinnern wollte. An Dinge, über die sie zu anderen Stunden des Tages nicht nachdenken wollte, mehr noch, an die sie sich nicht einmal erinnern wollte, dachte sie während der Zeit einer Tasse Kaffee und einer Pfeife. Wenn der Kaffee ausgetrunken war und der Rauch der Pfeife verzogen, verlor sie an die Dinge, die sie eben noch beschäftigt hatten, keinen Gedanken mehr. Bis zum nächsten Tag, wenn die wilden und frechen Wellen übereinander stiegen, um ein Stück mehr von der Sonne zu ergattern, und Serfiraz mit einem Tablett mit dem Kaffe und der Pfeife ins Zimmer trat.

 

[…]

 

DER SCHEIDEWEG

Sollte ich mich irren, macht das nichts;

die Erzählung ändert sich ja nicht.

Umberto Eco, Die Insel des vorigen Tages

 

Sie war dort, ihm genau gegenüber. Genauso schön wie früher, genauso unerreichbar und geheimnisvoll, als wollte sie die vergangenen Jahre Lügen strafen. Um sie nicht anzuschauen, drehte er seinen Kopf immer wieder weg, schloss immer wieder die Augen. Doch jedes Mal, wenn er sich rasch umdrehte, sah er ihre milchweiße Haut, und er konnte sich nicht beherrschen, musste ihre großen, schwarzen Augen, die einen Schatten auf ihr Gesicht warfen, anschauen. Sie war also dort. Sie kam, in den Spiegeln der Stadt sich vermehrend, und pflanzte sich vor ihm auf. Sie schwieg. Was sie nicht wollte, erzählten ihre Augen, doch was sie wollte, das war aus keiner noch so winzigen Spur zu erkennen. Obwohl Isak sofort wusste, was er tun musste, als er sie erblickte. Isabel wollte diese Ehe nicht und Isak wollte nichts tun, was sie nicht wollte.

Die Rabbiner diskutierten diese Frage endlos und kamen schließlich zu einer Entscheidung. Haham Yakup nahm die Aufgabe auf sich, das Urteil zu überbringen, und während er Isak von der Tradition berichtete, sah er besorgt aus. Von Isabel Nuñez Alvarez, die durch den plötzlichen Tod Abraham Pereiras verwitwet war, wurde erwartet, dass sie ihren Levir, den unverheirateten Bruder ihres verstorbenen Mannes, heiratete. Wenn der Levir diese Heirat nicht wünschte, würde die Witwe kraft der zu zelebrierenden Halitzah Zeremonie wieder frei. Die Worte waren wie gespitzte Hagelkörner, schlugen heftig auf ihn ein. Die Worte trafen ihn Stück für Stück, der Reihe nach. Die Namen  durchbohrten ihn, doch es schmerzte ihn nicht. Er hörte die Worte, kannte die Namen, aber er spürte nichts. Er schaute verwundert auf seine durchlöcherten Arme, Beine, auf seine Brust. Er versuchte zu begreifen, wann sie sich so verändert hatten. Dann verzichtete er völlig darauf. Er überließ sich seiner Steifheit.

Isabel war in rauschende, glänzende Gewänder aus teueren Stoffen gekleidet. In ihren Haaren funkelten die wertvollsten Juwelen. Vögel ließen sich auf ihre Schultern nieder.  Während sie die Vögel anlächelte, erhob sie sich in die Lüfte, sie war leicht wie eine Feder, flatterhaft wie der Wind, rebellisch wie das Wasser, ungestüm und aufbrausend. Sie gesellte sich zu den Vögeln und setzte sich auf den Ast der hundert Jahre alten Eiche. Ihr Rock befleckte sich mit Blut, sie merkte es aber nicht. Sie verließ die Vögel. Wohl weil sie sich nicht umdrehte, erstarrte sie weder zur Säule, noch zu Salz. Sie ging durch das Tor des Palastes und lief in den Korridoren. Sie liebte das Kind von Ibrahim. Sie lächelte immerzu. Ihre Blicke trugen das Siegel Sultanin Kösem. Dieses Siegel drückte sie auf die Herzen, die sie brach und noch brechen würde.

Sie war also dort, am Scheideweg, wo Wege neue Wege gebaren, wo Spiegel Spiegel zerteilten, wo Geschichten Geschichten vergessen ließen. Als wäre nicht sie der Grund für dieses fürchterliche Erdbeben, das die Brust der Erde aufriss, als wollte sie sagen, dass all die Katastrophen, diese Sintflut, die Verhängnisse und das Leid auch ohne sie geschehen wären, stand sie ruhig und zuversichtlich, teilnahmslos und unbeschwert da. Sie wartete darauf, verstanden zu werden. Isak verstand sie. Er verstand, dass sie diese Ehe nicht wollte, dass sie, sofort nachdem sie freigesprochen würde, mit einem anderen Vogelschwarm davonzöge. Das hieß also, dass sich ihre Erinnerungen irgendwo getrennt hatten, sie erinnerten nicht die gleichen Dinge. Die Erinnerung, die im Herzen des einen Wurzeln schlug, strömte  durch die Adern des anderen hinaus. Wo der eine innehielt, brach der andere in eine neue Richtung auf. Was dem einen genügte, war dem anderen zu wenig. Isak hatte verstanden. Er beugte sich zu Haham Yakup und flüsterte ihm ins Ohr, dass er diese Ehe nicht einzugehen wünschte. Die Alten versammelten sich um ihn und versuchten ihn zu überzeugen. Er schaute sie mit einem bitteren Lächeln an, denn sie klammerten sich aus Angst vor der Einsamkeit an den Rettungsring der Tradition. Wenn sie schon unbedingt jemanden überzeugen wollten, dann sollten sie die in den Augen Isaks sich spiegelnde Isabel überzeugen. Man müsste die Reisende am Scheideweg, in deren Augen das Siegel Sultanin Kösem  und die Spiegel der Stadt leuchteten, überzeugen, und nicht Isak.

Isabel fastete. Sie sprach nicht. Sie stand zusammen mit Isak vor dem fünfköpfigen Rat. Als die Alten begriffen, dass sie Isak nicht würden überzeugen können, begann Isabel zu handeln. Sie kniete sich hin. Eine Weile verharrte sie so, mit gesenktem Kopf. Dann hob sie den Kopf, schwer, als würde sie ein Netz voller Fische aus dem Wasser ziehen. Sie griff mit der rechten Hand den linken Fuß Isaks und löste die Schuhsenkel, zog die Lederschuhe aus und stellte sie beiseite. Sie spuckte aus.

»Wer es ablehnt, das Heim seines Bruders zu schützen, verdient nichts anderes!«

Haham Yakup murmelte mit einer Stimme, der seine Trauer anzumerken war: »Gott möge die Töchter Israels vor dem Halitzah bewahren!«

Das Ritual war zu Ende. Isak Pereira stand regungslos da. Er wusste nicht, wann Isabel gegangen war. Er wollte wissen, ob sie zurück geblickt hatte, als sie ging. Und wenn sie geschaut hatte, hatte sie einen Abschiedsbrief in ihren Augen gehabt, der das Siegel Kösems trug?

 

Er war allein geblieben. Die Sonne ging unter, der Mond ging auf, die Sterne wurden mehr.

Er war mutterseelenallein.

 

[…]

 

DRAUSSEN

Ihr seid eingesperrt, aber ihr seid nicht allein.

Es gibt Dutzende, die in den Straßen

frei herumgehen und dennoch gefangen sind.

Khalil Gibran

 

Sie erwachte von ihrem eigenen Wehgeschrei. Das Kreischen passte nicht ins winzige Dachbodenzimmer und trat durch das kleine Fenster hinaus, stieg zum Himmel, wurde zum Donner und zerbrach in den Höhen. Der Sturm war nah. Sie spürte das. Sie sah das. Sie sah ihn im Traum. Den Fremden mit den krausen Haaren, der im Hof war. Der neugierig und wütend schaute und dann ging. Er hatte Probleme.

Sie stand auf. Eine Weile hielt sie die Augen geschlossen und lauschte den Stimmen des Regens im Klosterhof, im Garten und im Friedhof. Als sie ihre Augen öffnete, beschloss sie, hinauszugehen.

Sie griff in den Himmel/zog still die Netze ein/sammelte eine Hand voll/von den Buchstaben des Satirikers/sie zählte sie/stieg die Treppe hinunter/das Abenteuer begann/ihre Kindheit rief ihr nach/ihr Schatten hinkte ihr nach/das Tor quietschte/Zühre stammelte den Namen ihrer nie gekannten Schwester/ der Regen wurde heftiger/sie packte das Schicksal am Schopf/ das Außentor aus Eisengittern ging auf/Scheich Süleyman Efendi weinte im Traum/die Straßen der Stadt lagen vor ihr/irgendwo in der Ferne lachte eine Verrückte laut/die Hälfte ihres Gesichts/schmerzte hämmernd/das Draußen verschluckte das Innen/nicht um den Rückweg zu finden/sondern um nie wieder den gleichen Weg zu gehen/ und sie begann zu rennen/die Buchstaben des Satirikers/alle Worte, die sie kannte/in den Straßen zerstreuend.

 

[…]

 

ICH

Was ich auch mache

jedes Samen treibenden Windes

Pesthauch bleibt in mir zurück

Ismet Özel, Vierzig

 

»Wer war ich?«

                        Miguel Pereira

                                   An einem Ende des Mittelmeeres.

»Wer war ich?«

                        Isak Pereira

                                   Am anderen Ende des Mittelmeeres.

»Wer war ich?«

Mörder und Opfer. An meinen Händen klebt das Blut von anderen, und an den Händen von anderen klebt mein Blut. Ich habe gemordet. Vielleicht habe ich abermals gemordet. Zum Glück hat mein Gedächtnis alle Spuren ausgelöscht.

Ich bin Opfer eines Mordes. Vielleicht Opfer vieler Morde. Zum Glück glaube ich nicht, dass man mir nachtrauern wird. Ich kann das Gesicht meiner Mörder nicht sehen. Von ihren Namen wird sowieso nichts weiter als einige Schriftzeichen zurückbleiben. In meiner Kehle blieben Tausende Worte, Dutzende Geschichten stecken. Ich schweige, wenn ich reden müsste. Wenn ich meinen Mund halten müsste, werde ich über meine Zunge nicht Herr. Auch wenn ich viel zu erzählen habe, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich verstanden werden will.

»Wer war ich?«

Auch wenn ich es sagen würde, würde man sich am Ende der Seite noch daran erinnern?

© Literaturca Verlag

Literaturangaben:
SHAFAK, ELIF: Spiegel der Stadt. Aus dem Türkischen übersetzt und mit einem Nachwort von Beatrix Caner. Literaturca Verlag, Frankfurt 2004, 365 S., 17,90 €.


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