Was haben Afghanistan, das deutsche Wohlfahrtssystem und die Forderung nach mehr Demokratie gemeinsam? ‚Zivilgesellschaft’ gilt in allen drei Fällen als Schlüsselkonzept, um aktuellen Herausforderungen zu begegnen und eine nachhaltige Politik zu ermöglichen. Offensichtlich muss ‚Zivilgesellschaft’ in den unterschiedlichsten Feldern des täglichen politischen Diskurses als Patentlösung herhalten. Ein Begriff, der noch vor 20 Jahren im deutschen Sprachraum kaum eine Rolle spielte, wird heute wie nie zuvor als Wundermittel gegen Demokratiedefizite, als Leistungsträger bei der Aufrechterhaltung des Gemeinwohls und unverzichtbares Element beim nation building gefeiert. Manch einer mag sich wundern, was diese Zivilgesellschaft alles so drauf hat.
Die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten des Begriffs gehen einher mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen, was denn nun eigentlich genau darunter zu verstehen sei. Denn Zivilgesellschaft hat eine lange philosophische Tradition: Bereits Aristoteles und Platon erhoben sie zum tragenden Element ihres Staatsverständnisses; von Montesquieu über Hegel bis hin zu Habermas reicht die Liste weiterer prominenter Geistesgrößen, die in ihr eine mehr oder weniger relevante gesellschaftliche Sphäre sahen. Heute betrachten Ökonomen die wirtschaftliche Leistungsstärke des gemeinnützigen Sektors, Soziologen untersuchen, wer denn nun eigentlich bei ‚Zivilgesellschaft’ mitmacht, und Politikwissenschaftler möchten wissen, ob unsere Demokratie durch eine starke Zivilgesellschaft leistungsfähiger wird.
Selbst die Wissenschaft kommt also kaum auf einen gemeinsamen Nenner. Jürgen Schmidt vom renommierten Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) hat daher, um „ein Bild über die verschlungenen Wege“ der Auseinandersetzung mit Zivilgesellschaft zu zeichnen, eine Sammlung von Quellentexten herausgegeben. Die Auswahl reicht von den Klassikern der Antike über Aufklärer bis zu den heutigen zivilgesellschaftlichen Akteuren und spürt so der begriffsgeschichtlichen Entwicklung, aber auch den vielfältigen Wurzeln des Themas nach: „Die Wege der Zivilgesellschaft führen in das antike Athen und Rom, in das frühaufklärerische Schottland,…, auf die Plätze des Weltsozialforums in Lateinamerika und auf die von der Solidarnosc beherrschten Straßen Polens…“.
Die zitierten Autoren decken also eine große Bandbreite der politischen Philosophie ab. Dabei kommen auch einige Denker zu Wort, die in den gängigen ideengeschichtlichen Darstellungen von Zivilgesellschaft üblicherweise eher unterrepräsentiert sind: Wilhelm von Humboldt etwa, aber auch Rosa Luxemburg und Ernst Jünger. Aber auch die „Klassiker“ der Zivilgesellschafts-Literatur dürfen natürlich nicht fehlen: Alexis de Tocqueville, Antonio Gramsci oder Robert Putnam sind neben vielen anderen ebenfalls vertreten.
Den Textausschnitten sind kurze einleitende Kommentare des Herausgebers vorangestellt, welche die Grundthesen in den historischen Zusammenhang stellen und Grundpositionen des jeweiligen Zivilgesellschafts-Denkers vorstellen.
Dem Herausgeber gelingt es dabei auf hervorragende Weise, sein einleitend geäußertes Vorhaben umzusetzen, nämlich die große zeitliche und inhaltliche Spannweite des Zivilgesellschaftsbegriffs vorzustellen. Besonders hilfreich ist dabei die ausführliche Einleitung, in welcher die doch arg unterschiedlichen Theorieansätze in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden. Diese „Klammer“ ist auch unbedingt nötig, zu zahlreich und heterogen sind die verschiedenen Positionen.
Der rote Faden ist dabei die selbstbestimmte Organisation der Bürger, die auf diese Weise auf die Geschicke des Gemeinwesens einwirken wollen. Besonders erhellend wirkt die vom Autor vorgenommene Gliederung der Theorieansätze in vier Bereiche: Zivilgesellschaft als bürgerschaftliches Engagement, als normatives Konzept von Gewaltfreiheit und Zivilität, als gesellschaftliche Sphäre jenseits von Staat, Markt und Familie sowie als utopisches politisches Konzept.
Der auf diese Weise angebotene Überblick bringt jedoch auch einige Nachteile mit sich. So erschließt sich der praktische Wert der Textsammlung nicht auf den ersten Blick, denn für eine wissenschaftliche Verwendung sind die Textausschnitte und Kommentare zu kurz – ein Dilemma, dem bei 2500 Jahren Ideengeschichte kaum beizukommen ist, will man die Übersichtlichkeit nicht gefährden. Für Leser, die sich näher mit bestimmten Positionen auseinandersetzen wollen, kann die vorliegende Textsammlung lediglich flüchtiger Ausgangspunkt sein.
Das Buch eignet sich daher insbesondere für dreierlei: erstens für einen generellen Überblick über die Thematik, zweitens zur Kurzinformation über die Positionen bestimmter Autoren, und drittens als Fundgrube für punktuelle Zitate und Ansichten von Philosophen, Politikern und Wissenschaftlern zum Thema Zivilgesellschaft. Vielleicht veranlasst es auch den einen oder anderen, mit dem Begriff Zivilgesellschaft im öffentlichen Diskurs nicht allzu unbedacht um sich zu werfen. Jürgen Schmidts Werk kommt in jedem Falle der Verdienst zu, die ausgesprochen verästelten Ideen und Terminologien (‚Zivilgesellschaft’, ‚bürgerliche Gesellschaft’, ‚Bürgergesellschaft’, ‚bürgerschaftliches Engagement’) auf weniger als 400 Seiten verständlich zusammenzufassen.
Von Philipp Hoelscher
Literaturangaben:
SCHMIDT, JÜRGEN: Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Kommentare. Rowohlt, Reinbek 2007. 351 S., 14,90 €.
Verlag: