Er war einer der meistgelesenen Autoren der Weimarer Republik, profilierte sich als Verfasser kritischer, von der Psychologie beeinflusster Zeitromane und durch die literarische Verarbeitung historischer Stoffe. Ab 1933 wurden seine Bücher von den Nationalsozialisten verboten, sie gerieten nach seinem Tod (1934) schnell in Vergessenheit und erlebten erst in den 1980er-Jahren eine Neuauflage. Seit 1993 vergibt seine Geburtsstadt Fürth alle zwei bis drei Jahre einen Jakob-Wassermann-Literaturpreis. Es wird zwar an den Universitäten über diesen kritischen Beobachter von Menschen und Zeiten geforscht, aber der breiten literarischen Öffentlichkeit ist er doch heute ein weithin Unbekannter.
Beatrix Müller-Kampel, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Graz, hat eine „biographische Collage“ über den einstigen „Welt-Star des Romans“, wie Thomas Mann ihn bezeichnete, verfasst: „ein chronologisch geordnetes sowie kommentiertes Kaleidoskop von Selbstbekenntnissen, Fremdeinschätzungen, Rezeptionszeugnissen, Textauszügen und Jahres-Bibliographien“. Jakob Wassermann wird als Mensch, Dichter, „Deutscher und Jude“, Liebender und Vater, Freund und Zeitgenosse aus den öffentlichen und privaten Einschätzungen jener erschlossen, die das für ihn maßgebliche literarische Feld darstellen: die Verlagslandschaft Berlins und die Vertreter der Wiener Moderne. Ein ganzes Netzwerk von persönlichen wie professionellen Beziehungen im literarischen Feld wird entworfen. Der Leser soll anhand des reich ausgebreiteten Materials zu eigenen Deutungen und Schlussfolgerungen ermuntert werden.
Unter dem Titel „Interieurs und Gruppenbilder im literarischen Feld“ stellt die Verfasserin eine auf den Punkt gebrachte Biografie Wassermanns voran, der sie Pierre Bourdieus Theorie vom literarischen Feld zugrunde legt: Danach ist der einer mittelfränkischen jüdischen Kleinbürgerfamilie entstammende Wassermann als Künstler wie Erfolgsautor vor allem aufgrund der sozialen Felder erschaffen worden, aus denen er kam und in die er gelangte. Den ersten Teilbereich dieses literarischen Feldes bestimmt die Wiener Moderne, in der sich Wassermann seit der Übersiedlung 1898 nach Wien etablierte. Er heiratete in das finanziell unabhängige Großbürgertum ein, befreundete sich mit Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Wassermann schloss nach und nach in Wien, in seinem Sommersitz Altaussee und in Berlin, wohin ihn regelmäßig Besprechungen und Verlagsverhandlungen führten, „gleichsam mit einem Who’s who der zeitgenössischen Hochkultur“ – so schreibt die Verfasserin – Bekanntschaft.
Der zweite Teilbereich wird repräsentiert durch das Verlagsimperium S. Fischer, zu dem Wassermann 1900 übergewechselt war. Das Verleger-Ehepaar Fischer hielt Hof, wo immer es sich aufhielt, und die Autoren und Künstler – auch Wassermann – reisten regelmäßig an. Vorträge und Lesungen führten den Autor auch ins nicht deutschsprachige Ausland. Er positionierte sich als wertkonservativer Humanist und radikaler Kritiker sowohl des Antisemitismus als auch des Zionismus bzw. jüdischen Nationalismus. 1915 lernte Wassermann seine spätere zweite Frau Marta Stross-Karlweis kennen und ließ Julie mit vier Kindern zurück, was diese nicht überwinden konnte und ihn nun bis zu seinem Lebensende mit Scheidungs- und Unterhaltsprozessen überzog.
Um 1925 hatte Wassermann den Gipfel seines Ruhmes erreicht. Neben Hermann Hesse und Thomas Mann war er der dritte große Geldverdiener und -bringer des S. Fischer Verlags, er gehörte der gerade gegründeten Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste an. 1933 wurden Wassermanns Bücher auf die erste schwarze Liste der Nationalsozialisten gesetzt, seinem Ausschluss aus der Akademie kam er durch den eigenen Austritt zuvor, der S. Fischer Verlag zog sich von ihm zurück, seine Einnahmen aus Deutschland versiegten fast ganz. In prekärer finanzieller Situation, krank und voller Verbitterung ist er gestorben.
Beatrix Müller-Kampel kann in den Längs- und Querschnitten, den Hauptlinien und Seitentrieben eines gelebten Lebens und Schreibens deutlich machen: Wassermann war ein Erzähler von nie ermüdender Leidenschaft. Welcher Stoff ihm auch unter die Hände geriet, er wurde zur Erzählung, zum Roman. Dabei waren die erzählerischen Impulse so stark, dass sie sich von Roman zu Roman fortpflanzen sollten. Die Reihe der Romane ist ein erzählerisches Kontinuum ohnegleichen. Zwar fügt es sich nicht durch immanenten Formzwang zur großen Prosadichtung im Sinne Robert Musils oder Heimito Doderers, doch reift es in seinen besten Werken zur „gedichteten“ Prosa von hohem Rang. Die Mühelosigkeit und Beiläufigkeit, mit der er erzählte, darf nicht über die strenge Disziplin hinwegtäuschen, die in seinen Erzählungen waltet.
Unter den psychologischen Erzählern stand er seinerzeit wirklich im Mittelpunkt des Interesses. Schon im Kaiserreich gehörte er zu den erfolgreichsten Romanciers. Er ließ, vorzugsweise in historischen Stoffen, moderne Seelenlagen aufleuchten, die er in einem enthusiastisch hochgestimmten, breite Leserschichten mitreißenden Stil beschrieb. Um das Schicksal des legenden- und skandalumwitterten badischen Prinzen geht es in „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“(1908), um das Schicksal eines romantischen Musikers, der zwischen zwei Frauen steht, in „Das Gänsemännchen“ (1915). In gewandelter Zeit setzte Wassermann ähnliche romantische Existenzen dann auch unbedenklich als Symptome für die Gesellschaft insgesamt ein. An der Epochenschwelle, zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, veröffentlichte er – gleichzeitig mit Hesses „Demian“ – den Roman „Christian Wahnschaffe“ (1919), dann sammelte er seine Novellen in vier Bänden unter dem Titel „Der Wendekreis“ (1920/24).
In der Folge verschmäht Wassermann die Mittel der Kolportage nicht, um seinen Erzählungen wenigstens stofflich die epochale Verbindlichkeit zu sichern. „Der Fall Mauritius“ (1928), eine Kriminalgeschichte, weitet sich durch die Fortsetzungen „Etzel Andergast“ (1931) und „Joseph Kerkhovens dritte Existenz“ (postum 1934) zur Trilogie. Aber diese „Großform“ ist rein quantitativer Natur, ist Folge unermüdlichen Erzählens, Erzählen-Müssens fast morgenländischer Art, das nur durch den Tod des Autors beendet wurde. Im gesamten Werk des Autors – so ist mit Recht festgestellt worden – bleibt die „morgenländische“ Erzählmotivation der Scheherazade erhalten: nämlich durch Geschichten-Erzählen sein eigenes und anderer Leben zu retten. Aber auch Werfels späte Romane („Der gestohlene Himmel“, 1939, danach unter dem Titel „Der veruntreute Himmel“, „Das Lied von Bernadette“, 1941) entgehen ebenso wenig wie die späten Romane Wassermanns der Tendenz zur Kolportage.
Wassermanns „Weg als Deutscher und Jude“, so der Titel seines autobiografischen Berichts von 1921, ließ ihn sich immer wieder mit dem Problem des Jude-Seins in einer aufs Ganze gesehenen distanzierten bis feindlichen deutschen Umwelt auseinandersetzen. Er fühlte sich als Deutscher, verleugnete aber nie seine jüdische Herkunft. Er litt zeitlebens daran, dass die erstrebte Synthese, die im Gedanken der Humanität potenziert erfüllt werden sollte, vom Antisemitismus zunichtegemacht wurde. Die autobiografische Schrift „Mein Weg als Deutscher und Jude““ gipfelt im zehnmaligen Verzweiflungsschrei „Es ist vergeblich …“ angesichts eines Judenhasses, der sich selber Sinn und Ziel war. Im Ofen des Antisemitismus, so hatte er bezogen auf das New Yorker Ghetto in seiner „Selbstschau“ von 1933 formuliert, würden Millionen verbrannt, und die Minorität der reichen Juden bilde den Zündstoff dazu. Dass die Verbrennung in Deutschland dann wirklich stattfinden sollte – vor dieser Einsicht wurde der Autor nur durch seinen vorherigen Tod bewahrt.
Trotz seiner eigenen Identitätsproblematik, den Zügen des Selbsthasses und der Idiosynkrasie gegenüber dem Ostjudentum hat Wassermann gerade bei Juden in besonderer Weise Verständnis gefunden. Seine messianische, prophetische Ausstrahlung bei der Suche nach der wahren Moralität ist immer wieder als Grund dafür genannt worden.
Für den Leser, der erst nähere Bekanntschaft mit diesem Schriftsteller schließen möchte, dürfte sich diese Porträt-Collage als höchst sperrig erweisen. Er muss sich tapfer durch sie hindurcharbeiten. Denn die Darbietungsformen sind recht kompliziert, die Struktur der Collage ist zu heterogen. Ständig werden bibliografische Angaben der Schriften eingebracht, die Wassermann in einem bestimmten Zeitraum verfasst und veröffentlicht hat, einschließlich der Wiederauflagen früherer Erstausgaben, der Übersetzungen, Wiederauflagen von Übersetzungen, Verfilmungen und bis 1934 auch selbstständigen Publikationen. Diese Angaben sollen die „staunenswerte Erfolgsgeschichte Wassermanns dokumentieren und zugleich die kontextuellen bibliografischen Zugriff ermöglichen“, begründet die Verfasserin, aber diese stören doch den Lesefluss und hätten gesondert aufgeführt werden müssen.
In den durchgehenden biografisch-zeitgeschichtlichen Kommentaren werden Wassermann-Zitate aus Briefen, Tagebuch, Schriften, Erzählungen und Romanen eingestreut, Zeugnisse von Familienangehörigen, Freunden und anderen Zeitgenossen, vor allem aus Marta Karlweis’, Wassermanns zweiter Frau, 1935 erschienenem Porträt des Schriftstellers. Es ist unglaublich, was die Verfasserin hier alles zusammengetragen hat. Dazu vermitteln viele Abbildungen einen visuellen Eindruck von Leben und Zeit. Jeder, der sich mit Wassermann beschäftigen will, ob aus Liebhaberei oder Professionalität, wird an diesem Quellenwerk, das zudem mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis sowie Personen- und Werkregister versehen ist, nicht vorbeigehen können. Aber als Lesebuch – denn auch das will diese Collage ja sein – hätte man sich ein handlicheres, leserfreundlicheres Kompendium gewünscht.
Literaturangaben:
MÜLLER-KAMPEL, BEATRIX: Jakob Wassermann. Eine biographische Collage. Mandelbaum Verlag, Wien 2008. 305 S., 24,90 €.
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