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Italienische Geschichten von Giorgio Bassani und Dacia Maraini

Zu Romanen von Dacia Maraini und Giorgio Bassani

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 07.11.07

 

Es sind die Schriftsteller, die in der weithin „anti-politisch“ gewordenen italienischen Gesellschaft die Erinnerung an die erst etwa hundertvierzig Jahre lebendig halten, die vergangen sind, seit aus einem unterentwickelten, gerade erst zu einer Nation gewordenen Staat, in dem sich die römische Kirche nur widerwillig aus dem riesigen, von ihr dominierten Kirchenstaat zurückziehen musste (ohne doch je ihren Anspruch aufzugeben, weiterhin als dominierende gesellschaftliche Kraft zu gelten), und die vielen Fürstentümer und Königreiche ihre Macht an die Könige von Savoyen abgeben mussten. Diese posierten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Souveräne in einer schwachen Demokratie, in der seit 1922 der Diktator Mussolini das Sagen hatte, ehe die westlichen Alliierten ihn, den Satrapen der Deutschen, vertrieben, seine eigenen Landsleute ihn umbrachten und auch den König außer Landes jagten – als Folge einer Volksabstimmung, die die Monarchisten verloren.

Es war die Zeit eines späten industriellen Aufbruchs und einer bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts andauernden Völkerwanderung, die weite Teile der Bevölkerung des bitterarmen Südens aus einer agrarischen Umwelt riss und entweder in den reichen Norden des Landes ziehen ließ, wo es Fabriken und Arbeit gab, oder über den Ozean in die USA oder nach Lateinamerika, wo sie hofften, ein besseres Leben zu finden.

2004 sind wieder zwei Romane erschienen, die diesen beispiellosen Vorgang zum Thema machten, Ugo Riccarellis Roman „Der vollkommene Schmerz“ und Dacia Marainis „Gefrorene Träume“, ein Roman, der in Italien den Titel „Colomba“ trägt. Beide sind inzwischen ins Deutsche übersetzt. Über Riccarelli haben wir in der BLK bereits berichtet.

Dacia Maraini, 1936 geboren, ist eine fleißige Autorin, der wir unter anderem den spannenden historischen Roman „Die stumme Herzogin“ und die bewegende Geschichte einer schwierigen Kindheit und Jugend verdanken, verknüpft mit dem Untergang der sizilianischen Stadt „Bagheria“ (so heißt auch das Buch), die ihren alten Charakter durch Bodenspekulation und Mafia völlig verloren hat. Sie selbst bezeichnet sich in ihrem neuen Buch als die „Frau mit den kurzen Haaren“ und schafft so ein erzählendes Ich in der dritten Person.

Sie lebt in einem weltverlorenen Dorf in den Abruzzen und hat gerade einen angefangenen Roman über die deutschen Konzentrationslager beiseite gelegt, weil sie an diesem Thema zu scheitern droht, als eine zweiundvierzigjährige Frau aus diesem Dorf sie aufsucht mit der Bitte, ihr bei der Suche nach ihrer Enkelin Colomba zu unterstützen, die im Alter von achtzehn Jahren plötzlich verschwunden ist. Die eingeschaltete Polizei hat die Suche nach ihr schnell aufgegeben, aber Zaira, „Za“ genannt, will sich damit nicht abfinden.

So sucht sie Hilfe, ausgerechnet bei der Zugewanderten, eben der „Frau mit den kurzen Haaren“. Aber was soll diese tun? Sie lässt sich gleichwohl darauf ein, in der Hoffnung, Zairas Geschichten seien ein tauglicher Erzählstoff. Mit dem Geschichtenerzählen kennt sie sich aus, hatte sie nicht schon als kleines Kind von ihrer Mutter verlangt, diese solle ihr vor dem Einschlafen etwas erzählen und hatte sie nicht auch ihrer Tochter die Welt mit Geschichten erklärt? Also lässt sie sich sozusagen auf einen Handel mit Za ein, die die verschwundene Colomba groß gezogen hat und die ihr Brot seltsamerweise mit dem Übersetzen von naturwissenschaftlichen Büchern und Cervantes verdient - ein karges Brot.

Dacia Marainis Buch besteht aus dem langsamen Aufblättern von Zas und deren Vorfahren für das bäuerliche Italien so typischen Lebensläufen: Die Männer geraten in den Sog der gesellschaftlichen Veränderungen, müssen vor der Übermacht der Herrschenden fliehen (bis nach Australien, wie Zairas Vater), werden eingekerkert, umgebracht oder fallen im Krieg. In jeder Generation sind es die Frauen, die übrig bleiben und für die jeweiligen Nachkommen sorgen müssen. In dem, was Za zu berichten weiß, spiegelt sich der Mentalitätswandel der Menschen - bis in die Jetztzeit, das Jahr 2002, in dem Za und die Frau mit den kurzen Haaren sich begegnen.

Maraini scheut keine Abschweifung, sie berichtet etwa von vorrömischen Stämmen, die in den wilden Abruzzen dem Imperium zu widerstehen versuchten und dabei aufgerieben wurden, von einem frühmittelalterlichen Mönch, der vom Papst Schutz für sein Kloster erbat, und von manchen anderen seltsamen Gesellen. Vor allem aber von den verschwundenen Männern und dem, was ihren Frauen widerfuhr. Am Ende hat Za Erfolg, findet die verschwundene Enkelin.

Maraini ist eine erfahrene Autorin, die weiß, wie man den eher dünnen Hauptstrang der Geschichte, die Suche nach Colomba, die Za in die tiefen Wälder der Abruzzen (und gefährliche Abenteuer) führt, so lange mit anderen Geschichten von anderen Personen, vor allem von Zas Verwandten, auffüllt, bis daraus ein Roman von über vierhundert Seiten wird. Sie beherrscht die Montage- und Spannungstechniken des Metiers und immer wieder gelingen ihr eindrucksvolle Szenen. Nur wenn sie nicht bloß erzählen, sondern auch die Historie der italienischen Linken vermitteln will, scheitert sie zuweilen, da kommt ihr die Pädagogik in die Quere. Gleichwohl, ihre paradigmatischen Bilder aus dem Leben der einfachen Leute, die alleweil den Großen und Mächtigen unterliegen, sind auch ein tauglicher, oft spannender Geschichtsunterricht für lesehungrige Nachgeborene.

Die Geschichte, die Giorgio Bassani erzählt, ist weit einfacher, sie handelt von Edgardo, einem Rechtsanwalt und Grundbesitzer aus Ferrara, der zwischen Weihnachten und Neujahr in den Valli, den weitverzweigten Feuchtgebieten des Po-Deltas, auf die Jagd geht. Dieser Roman kommt mit 150 Seiten aus, wurde 1968 geschrieben und war in der deutschen Ausgabe lange vergriffen. Bassani ist in Deutschland weithin nur als Autor des weit ausgreifenden Romans „Die Gärten der Finzi-Contini“ (und des danach gedrehten Films) über den Untergang der jüdischen Gemeinde Ferraras bekannt geworden.

Auch Edgardo ist Jude. Als Mussolini in Italien die Rassengesetze der Deutschen übernahm, hatte er seinen Besitz seiner „arischen“, katholischen Ehefrau überschrieben und ist selbst noch während des Krieges in die Schweiz geflohen. Als er zurückkommt, haben sich die Zeiten gründlich geändert: Die jüdische Gemeinde gibt es nicht mehr, von seiner katholischen Frau hat er sich weit entfernt, die früher so handzahmen Landarbeiter sind aufsässig geworden, hängen dem Spruch an, „Wer die Erde bearbeitet, dem soll sie auch gehören“. Es gab in den ersten Nachkriegsjahren schnell wieder ad acta gelegte Bestrebungen, eine Art von Bodenreform durchzusetzen und den Landlosen zu eigenen Äckern zu verhelfen, doch die im bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen erstarkte Kommunistische Partei, die diese Bodenreform forcierte, wurde schon 1947 auf Betreiben der USA und des Vatikans aus der Koalitionsregierung der ersten Nachkriegszeit entfernt. Als Bürgerschreck taugte die Partei gleichwohl, die Besitzenden fürchteten noch Jahrzehnte lang einen Umsturz. Auch Edgardo, dem seine unterbezahlten Landarbeiter eine Lohnerhöhung abtrotzen wollten, fühlt sich bedroht und allein: „Wirkliches und Unwirkliches, Gesehenes und Eingebildetes, was nah war und weit fort: Alles vermengte sich und ließ sich verwechseln. Sogar die gewöhnliche Zeit, die Zeit der Minuten und Stunden, gab es nicht mehr. Sie zählte nicht mehr.“

Edgardos Versuch, wenigstens für einen Tag einem Leben zu entfliehen, das ihm fremd geworden ist, scheitert an lauter Äußerlichkeiten. Er wird durch Missgeschicke aufgehalten, etwa die Begegnung mit einem Kneipenwirt, der „damals“ ein besonders unangenehmer Faschist gewesen war und der nun so tut, als sei nichts gewesen. Statt um sieben Uhr morgens erreicht er das Jagdgebiet erst am späten Vormittag. Den freundlich-distanzierten Jagdhelfer Gavino verdächtigt er, zu den Kommunisten zu gehören, er sitzt wie erstarrt in seiner Tonne und schießt nichts, nur dieser Gavino, dem er sein zweites Gewehr, das moderne, vielschüssige, gegeben hat, erlegt um die vierzig Vögel, darunter auch den Reiher, ein Einzelner zwischen den vielen auffliegenden Enten, der Edgardo umkreist, als suche er ihn, den Jäger, der doch weiß, dass Reiher allenfalls zum Ausstopfen gut sind.

Der große Vogel wird für Bassani zur Metapher für Edgardos Verzweiflung. Er lädt die Beute, von der Gavino nichts haben will, beim Kneipenwirt ab. Dieser hat dafür keine Verwendung mehr, denn auf der Rückfahrt fällt alles von ihm ab, was ihn peinigte: seine Frustration, seine Angst, sein Lebensüberdruss. Er fühlt sich frei – zum Selbstmord. Bassani erzählt mit minutiöser Genauigkeit, dabei gewinnen harmlose Einzelheiten einen bedrohlichen Charakter, banale Vorfälle, die Edgardo zustoßen, verbinden sich in seinem Kopf mit Erinnerungen an ein Leben, das ihm nun als vertan erscheint, ihn ins Ausweglose geführt hat: in dieser Welt hat er keinen Platz mehr.

Bassani ist ein glänzender Roman gelungen, „Der Reiher“ gehört in die Reihe jener großen Texte, die seine Generation (er wurde 1916 geboren, starb im Jahr 2000 nach langer Krankheit) zuwege brachte. Dass dieses Buch nun wieder vorliegt, ist dem Wagenbach Verlag zu verdanken, der sich unermüdlich weiter um italienische Literatur kümmert und nach und nach auch Bassinis Gesamtwerk neu veröffentlicht, vor dem so manche hochgelobten neueren Romane und ihre Autoren verblassen.

Literaturangaben:
BASSANI, GIORGIO: Der Reiher. Roman. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Wagenbach Taschenbuch, Berlin 2007. 151 S., 9,90 €.
MARAINI, DACIA: Gefrorene Träume. Roman. Aus dem Italienischen von Eva-Maria Wagner. Piper Verlag, München 2006. 436 S., 22,90 €.

Verlage

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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