Der Aufbau-Verlag kündigte „Rummelplatz“ als literarische Sensation an. Normalerweise sind solch vollmundige Aussagen mit Vorsicht zu genießen. Zu oft entpuppen sich hoch gepriesene Meisterwerke als aufgeblasene PR-Chimären. Nicht so bei Werner Bräunigs deutsch-deutschem Nachkriegsroman. „Rummelplatz“. Denn das wohl bekannteste unveröffentlichte Buch der DDR-Geschichte ist tatsächlich eines der Literaturereignisse des Jahres.
Auch nach über vierzig Jahren hat es nichts von seiner Faszination eingebüßt. Und „Rummelplatz“ zeugt von der Sprach- und Erzählkunst eines hochtalentierten Autors, der Zeit seines kurzen Lebens darunter litt, dass die DDR-Führung sein ehrgeiziges Romanprojekt missbilligte. Nach dem Vorabdruck eines Kapitels aus „Rummelplatz“ in der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ empörte sich Walter Ulbricht 1965 persönlich über die „Schweinereien“ des Genossen Bräunig und verhinderte das Erscheinen des Romans.
Wer das Buch heute liest, kann sich nur wundern über den Irrsinn der DDR-Kulturpolitik, die in den sechziger Jahren besonders restriktiv wütete. Die inkriminierten Passagen sind eher harmlos. Das Buch ist vielmehr ein aufrichtiges sozialistisches Epos, kein Renegatenroman. Hauptort der Handlung von „Rummelplatz“ ist die Wismut AG, das größte Reparationsprojekt der Nachkriegszeit.
In jener streng abgeschirmten Bergbauregion im Osten Deutschlands ließ die Sowjetunion Uran für den Bau ihrer Atombomben abbauen. „Müde“, „kühl“, „farblos“, „finster“, „muffig“, „gleichförmig“, „grau“, „reglos“: Die Adjektive, mit denen Bräunig die Umgebung schon auf den ersten Seiten belegt, verraten ihre Trostlosigkeit. Eine Trostlosigkeit, die auch die hart arbeitenden Menschen beschleicht.
Dennoch: Die Wismut ist auch eine Art Ost-Wildwest, „ein Staat im Staate, und der Wodka ist ihr Nationalgetränk“. Die seltenen Glücksmomente finden die Kumpel auf dem Rummelplatz, beim Rekordversuch in der Schiffschaukel, „an der warmen Haut eines Mädchens“ und beim Alkohol, immer wieder beim Alkohol. „Hinter den Buden blüht der Schwarzhandel, geliebt wird auf umgestürzten Grabsteinen, auf vergessenen Bänken, an einen Baum gelehnt. Hin und wieder bricht eine Schlägerei aus, dann strömen sie herbei von allen Seiten, bilden einen Ring, feuern die Kämpfer an oder schlagen selbst zu. Polizisten lassen sich nach Einbruch der Dunkelheit nur selten sehen.“
Es waren solche Passagen, die das DDR-Regime veranlasste, gegen den Roman vorzugehen. Zeigte er doch den Alltag der Kumpel ungeschminkt und ohne Glorifizierung. Natürlich ist es eine tragische Pointe, dass die Staatsgewalt gerade gegen Werner Bräunig ihr Exempel statuierte. War es doch Bräunig, der 1959 in ihrem Namen den programmatischen Aufruf „Greif zur Feder, Kumpel“ verfasste. Das war auf der 1. Bitterfelder Konferenz, wo es darum ging, kulturpolitische Probleme zu beheben.
Bräunig hatte selbst einige Zeit in der Wismut geschuftet, war Schlosser, Schweißer, Gelegenheitsarbeiter. Also eigentlich ein Vorzeige-Schriftsteller aus dem Proletariat. Nur: So realistisch, wie Bräunig ihn schilderte, war der sozialistische Realismus dann doch nicht gemeint. Seine wahrlich „wirklichkeitsgesättigte Prosa“ (so Christa Wolf im Vorwort) ging den DDR-Funktionären zu weit. Bräunigs Schilderungen hätten „mit unserem sozialistischen Lebensgefühl nichts gemein“, monierte Erich Honecker auf dem 11. Plenum der SED 1965. Ein Todesurteil.
„Rummelplatz“ ist jedoch keineswegs ein oppositionelles Pamphlet. Vielmehr führt Bräunig die Schwierigkeiten der jungen Nachkriegsgeneration vor, in den beiden Deutschlands heimisch zu werden, ihren Platz im System zu finden. Für die Jugend waren das verwirrende Zeiten: Von der HJ in die FDJ im Osten – und im Westen bei der Nationalhymne noch die erste Strophe im Kopf, wo sie eigentlich doch die dritte singen sollte.
Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg lasteten auch schwer auf ihren Schultern. „Viele von ihnen waren erwachsen, ohne eine Chance gehabt zu haben, jemals jung zu sein“, heißt es in dem Roman. Diese traumatisierte, „skeptische Generation“ (Helmut Schelsky), der Ideologien zutiefst zuwider waren, sollte in der DDR ein neues, besseres Deutschland aufbauen. Keine leichte Aufgabe. Zumal niemand wusste, wie das gehen sollte, eine neue Gesellschaft zu formen.
Bräunig modelliert in seinen Romanfiguren verschiedene Typen dieser verlorenen Generation. Da ist der bürgerliche Professorensohn Christian Kleinschmidt, der sich in der Wismut-Produktion bewähren muss, bevor er studieren darf. Peter Loose wiederum ist ein unangepasster Außenseiter und ehrlicher Haudrauf. Ruth Fischer steigt in der Bermsthaler Papierfabrik von der Hilfsarbeiterin zur ersten weiblichen Maschinenführerin auf. Und Nickel heißt der junge Personalleiter, der ihr den Aufstieg ermöglicht.
Unter den (den Arbeitern zumeist verhassten) Funktionären gibt es wenige Idealisten und viele Opportunisten. Leute, wie der dicke, schleimige Mehlhorn, die in jedem System Karriere machen wollen. „Der war bereit, jede Verantwortung zu übernehmen, wenn nur ein Pöstchen damit verbunden war“, heißt es einmal in einem inneren Monolog von Christian.
Kleinschmidt und Loose sind die eigentlichen Helden unter den jungen Ostdeutschen. Dazu kommt der alte Steiger Hermann Fischer, Vater von Ruth, überzeugter Kommunist der ersten Stunde und Mentor der beiden ungleichen Freunde. Der einsilbige, pragmatische Arbeiter ist zugleich Parteisekretär. Ein Funktionär aus dem Volk und als solcher einer der wenigen Aufrechten in der Nomenklatur.
Er zeigt Kleinschmidt und Loose, dass die harte Bergmannsarbeit, der heroische Kampf gegen den Fels, trotz der widrigen Umstände befriedigend sein kann, ja Erlösung verspricht. Ein Thema des klassischen sozialistischen Entwicklungsromans. Bräunig trägt arg dick auf, als er die Figur Hermann Fischer in ihr dramatisches Schicksal führt. Dies ist eine der wenigen schwächeren Stellen in dem unvollendeten Roman. Denn Bräunig wird pathetisch, wo seine Erzählung zuvor gerade durch einen Stil bestach, der Sentimentalitäten sofort durch schnodderigen Sarkasmus erdete.
Gegen die eindrücklichen Beschreibungen aus der Wismut kommen die Kapitel, die im Westen spielen, nicht an. Vielleicht auch, weil sie insgesamt etwas zu kurz kommen. Sie sind jedenfalls weniger lebendig und holzschnittartiger. Die Hauptfigur Irene ist eine Cousine von Christian Kleinschmidt, Tochter eines hohen Tiers und unentschlossen, was aus ihr werden soll. Ihr Geliebter, ein aus dem Exil zurückgekehrter Journalist, kommt mit den neuen Verhältnissen nicht klar. Und Irene nicht so recht mit ihm.
Am Ende scheint ihr das Leben in der autoritären Welt der jungen Bundesrepublik attraktiver. In Irenes Umgebung, den besseren Bonner Kreisen, machen Alt-Nazis sofort wieder Karriere. Und die großindustriellen Freunde ihres Vaters werben Facharbeiter aus dem Osten ab, die dort dringend gebraucht werden. Ein Systemkampf, von dem die Jugend nichts wissen will, und der doch ihr Leben prägen wird.
„Rummelplatz“ hat über 600 Seiten, aber kaum ein Wort zuviel. Die Schärfe, mit der Bräunig die Empfindungen seiner Figuren einfängt, ist frappant, die Sprache ungeheuer anschaulich. In den Dialogen trifft er den Ton der Bergleute genauso sicher wie den der Politiker. Bräunigs erzählerische Finesse und Eindringlichkeit sucht unter deutschen Nachkriegsautoren ihresgleichen.
Nach 621 Seiten schließt die von Angela Drescher beispielhaft besorgte Edition des Romanmanuskripts lakonisch mit den Worten: „Ende des ersten Bandes.“ Das Großprojekt „Rummelplatz“ beziehungsweise „Der eiserne Vorhang“ (so der Arbeitstitel) war von Werner Bräunig ursprünglich auf mehrere Bände angelegt, die die Jahre bis 1960 abdecken sollten. Man hätte sie gerne gelesen.
Literaturangaben:
BRÄUNIG, WERNER: Rummelplatz. Roman. Herausgegeben von Angela Drescher. Aufbau-Verlag, Berlin 2007. 768 S., 24,95 €.
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