Hans von Marées wurde 1837 in Elberfeld-Wuppertal geboren und starb als Fünfzigjähriger 1887 in Rom. Mehr als 20 Jahre lebte er in Italien. Sein freiwilliges Exil, seine künstlerische Stellung gegen den seine Zeit beherrschenden, von Kunstakademien vermittelten pompösen Malstil machten ihn zum Unbekannten und Außenseiter. Durch den Einsatz des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe, der 1909/10 eine dreibändige Monografie verfasste, und die von diesem organisierten Ausstellungen wurde Marées für die nachfolgenden Künstler-Generationen – von Ludwig von Hofmann über Franz Marc, Otto Müller, Karl Hofer, Max Beckmann bis zu den Bildhauern Wilhelm Lehmbruck und Gerhard Marcks – ein wichtiger Anreger.
Dem breiten Publikum jedoch blieben Bilder und Maler fremd. Gründe gibt es viele: Marées’ Bilder sind ernst und abweisend, sie erzählen keine schnell zu erfassende Geschichte, sie sind alles andere als bunt und dekorativ. Im Eisenbahn- und Maschinen-Zeitalter zeigte Marées die Würde, Schönheit und Leidenschaft von Körpern. Zu der im Zeitalter der Industrialisierung entfremdeten und bedrohten Mensch-Natur setzte er die Bildkraft der von ihm ermalten Kunst-Natur. Außerdem sind seine Hauptwerke schon lange kaum noch anschaubar. Der Maler verwendete Asphaltfarben, die unaufhaltsam dunkeln. Dick aufgetragen, reißen sie – die Farbhaut platzt, die Bildfläche erscheint schwarz, wie angebrannt. Und trotzdem ist das, was da noch auf seinen Bildern zu sehen ist, bewegend und großartig genug.
Das Von der Heydt-Museum Wuppertal, das sich durch viele wichtige Ausstellungen in den letzten Jahren verdient gemacht hat, ehrt den großen Sohn der Stadt mit einer großen Retrospektive (bis 14. September 2008), die allein 70 Gemälde aus allen Schaffensphasen des Künstlers und unzählige, meist großformatige Zeichnungen umfasst. Neben der Neuen Pinakothek in München und der Alten Nationalgalerie in Berlin verfügt das Museum selbst mit 21 Gemälden und 41 Zeichnungen über den größten Marées-Bestand. Aus anderen deutschen, österreichischen und Schweizer Museen kamen Leihgaben hinzu, wenngleich auch die großen Tafelwerke wegen ihrer Fragilität – die von Marées bevorzugten Holztafeln reagieren empfindlich auf klimatische Veränderungen – an ihrem Standort in München oder Berlin verbleiben mussten. Erstmals in einer Marées-Ausstellung – die letzte hat im Jubiläumsjahr 1987 in München stattgefunden – werden auch die Skulpturen seiner Schüler und späteren Mitarbeiter, Adolf von Hildebrand und Artur Volkmann, gezeigt, um auf die wechselseitige Beziehung von Zeichnung, Malerei und Skulptur aufmerksam zu machen. Da zudem seit kurzem bekannt ist, dass Marées für seine Porträts zuweilen auch Fotografien als Vorlage benutzt hat, werden in die Schau zeitgenössische Aufnahmen nach Antiken und Fotografien von Wilhelm von Gloeden einbezogen, der mit seinen Jünglingsakten in italienischer Landschaft eine Marées vergleichbare künstlerische Idee verfolgte.
Der Katalog, herausgegeben von Gerhard Finckh, dem Direktor des Von der Heydt-Museums, und Nicole Hartje-Grave, der Kuratorin der Marées-Ausstellung, bringt mit Textbeiträgen von Gerd Blum („Der Maler als Modell – Werk und Wirkung zwischen Moltke und Duchamp“), Nicole Hartje-Grave („Hans von Marées und die alten Meister. Die venezianische und die flämische Malerei und ihre Bedeutung für Marées’ Porträt- und Landschaftskunst“), Angelika Wesenberg („Idylle und Hesperidenland“) und Anette Niethammer (Marées, Adolf von Hildebrand und Artur Volkmann) neue Aspekte in die Marées-Forschung ein. Den in der Ausstellung gezeigten Gemälden und Zeichnungen Marées sind auch zeitgenössische Fotografien von Rom, Neapel und Florenz, vor allem aber Wilhelm von Gloedens Freilichtakte von Knaben beigegeben, mit denen dieser ein ähnliches Konzept wie Marées verwirklichen wollte.
Natur und Mensch in ihren einfachsten Erscheinungen, allgemeinste Lebensvorgänge und Lebenszustände sind Marées’ Generalthemen. Die Ablehnung alles Allegorischen und Mythologischen führte zu den Idealbildern natürlichen Daseins. Auf die Verwandtschaft seiner Figurendarstellungen und Sehnsuchtslandschaften mit pompejanischer Kunst wie mit der Antike überhaupt ist immer wieder hingewiesen worden. Aber an die Stelle antiker Freiheit tritt bei Marées strenge Gesetzlichkeit im Verhältnis von Natur und Raum. Die Rückbesinnung auf die Ideale der Antike verkörperte für ihn ein Lebensgefühl, um den Widersprüchen der modernen Zivilisation im Heil eines zeitlosen mediterranen Arkadien zu entgehen. Diese Bildfindungen hat der Künstler selbst als seine „Hesperidenbilder“ bezeichnet: Akte in der Landschaft als Bilder des sich ständig erneuernden Lebens. Es war eine individuell erfundene Bildwelt, in die er lebensgeschichtliche Motive, aber auch in immer neue Metamorphosen autobiografische Gehalte eingeschrieben hat.
Wie lebenszugewandt aber Marées ist, was er als Wandkünstler kann, beweisen seine farbfrischen Fresken in der Zoologischen Station in Neapel, dem einzigen großen Auftrag, den Marées je erhielt. Die malerische Qualität dieser 1873 in vier Monaten gemalten Bilder kann man bereits an den in Wuppertal gezeigten und im Katalog abgebildeten großformatigen Ölskizzen erkennen, mit denen der Künstler vor allem die Figurenkonstellationen erproben wollte. Zusammen mit den Zeichnungen aus dem Neapler Skizzenbuch, die die erste Idee zu den Fresken festhalten, kann man die Entstehung dieses Gesamtkunstwerks von der Zeichnung über die Studie bis zum großformatigen Ölbild verfolgen. Einem Panorama ähnlich schildern die Fresken das Leben der Menschen am Golf von Neapel, die Ausfahrt der Fischer, ein Ruderboot in voller Fahrt, das Zusammensein der Menschen in einem Wirtshaus oder in einem Orangenhain.
Marées Porträts, durch ihre dunkle Farbigkeit und die Betonung von Gesicht und Händen den Einfluss Rembrandts aufweisend, erscheinen nahezu frontal und in knappem Ausschnitt ins Bild gesetzt. Im „Doppelbildnis Marées und Lenbach“ (1863) weist er seinem Münchener Malerkollegen den verschatteten Vordergrund zu und lässt ihn durch die beschlagenen Brillengläser wie erblindet erscheinen, während er selbst sich in vollem Licht in den Hintergrund setzt und mit einem überlegenen Lächeln den intellektuellen Part zuerkennt. Dagegen handelt es sich bei dem „Doppelbildnis Hildebrand und Grant“ (1870) um ein echtes Freundschaftsbild, das zwar durch die entgegen gesetzten Blickrichtungen der beiden eine gewisse Distanz vermittelt, aber doch von gegenseitiger Achtung und Verbundenheit geprägt ist.
Seine Figuren-Darstellungen – „Drei Männer in einer Landschaft“, „Männer am Meer“ (beide um 1874), „Männer und Frauen in einer Landschaft“ (Kassettenbild I, um 1874/75) –, die ohne einen erzählenden Zusammenhang vor einer italienisch anmutenden, paradiesischen Landschaft angeordnet sind, vermitteln eine feierliche, fast sakrale Aura. Marées erprobt verschiedene Haltungsmotive, das Verhältnis der Figuren zueinander und ihre Beziehung zu dem sie umgebenden Landschaftsraum, der nur als Hintergrund fungiert. Gemütsbewegungen werden hier nicht zum Ausdruck gebracht, der szenische Bezug erschließt sich durch ein Geflecht von Zu- und Abwendung, wobei Marées oft sich selbst und seine Freunde mit einbezogen hat. Er übersetzt eigene „Lebenshaltungen“ und solche, die er seinen Freunden ansinnt, in Haltungen und Gebärden von Akten. Ebenso verbildlicht er freundschaftliche und erotische Beziehungen, in denen er sich selbst befindet und in denen er die Personen seines privaten und künstlerischen Umfeldes wahrnimmt, in Konstellationen von antiken Figuren. Es sind meist die Gebärden des einfachen ruhigen Stehens oder Sitzens oder einer anderen mäßigen Bewegung. Sie stehen für Körperlust und Körperleid. Denn das Sinnliche des Leibes und das Gedankliche des Kopfes sind bei Marées untrennbar beieinander. Seine Kunst ist durch und durch weltlich und diesseitig.
Für Marées selbst waren die Zeichnungen nur Studienblätter, Entwürfe, die er später oft vernichtete. Sie lassen aber den Betrachter an der Entstehung und Ausformung seiner Bildideen teilhaben. Die Kunstwissenschaft hat gerade in den Zeichnungen den noch offenen Prozess der künstlerischen Gestaltung erkannt, und so können auch zahlreiche Zeichnungen einen Eindruck von der zweiten Fassung des Dreiflügelbildes „Die Hesperiden“ von 1884-87 vermitteln. Es zeigt – im Mittelbild - die drei die Lebensäpfel verwaltenden Göttinnen, es zeigt – auf den Seitentafeln des Triptychons – ältere und jüngere Männer, die sich zu einer Allegorie der Lebensalter zusammenfügen. Bei Marées sind die drei Frauen dauernd und unveränderlich anwesend und scheinen sich dennoch zugleich in Bewegung zu befinden, sie sind „in der Zeit“ und ihr doch enthoben. Unsterblichkeit wird hier als Zusammenfallen von zeitenthobener Vollkommenheit und lebendiger Erneuerung in der Zeit gedeutet. Die Zweitfassung des „Goldenen Zeitalters“ von 1880 hat der Maler, so schreibt Julius-Graefe, in wenigen Tagen vollendet, doch etwa fünfzigmal überarbeitet.
Der Form des Dreiflügelbildes gehören seine letzten großen Werke an: neben den „Hesperiden“ das „Parisurteil“ (1945 in Berlin verbrannt), die „Drei Reiter“ und „Die Werbung“. Anstelle eines bloßen Ausschnitts sollte wieder ein Ganzes treten, anstelle zufälliger Beschränkung eine höhere Einheit. Aber es waren Werke ohne Auftrag. Es gehört zur Tragik Marées, dass er, der einzige deutsche Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der in seiner Spätzeit die inneren Bedingungen einer Monumentalkunst erfüllte, von den monumentalen Aufgaben seiner Zeit ausgeschlossen blieb. Was er in seinem Werk zu bannen suchte, war das Bild einer ursprünglich heilen Welt, in dem die Kräfte des Daseins und das Humane des Menschen zu reinem Ausdruck kommen sollten. Scheinbar ewig und zeitenthoben treten seine Bilder auf und lehren doch den unaufhebbaren Prozess menschlichen Alterns. Marées hat diesen Widerspruch ins Bild gesetzt.
Das letzte „Selbstbildnis“ von 1883 zeigt den noch nicht Fünfzigjährigen in tiefer Resignation und Einsamkeit.
Literaturangaben:
FINCKH, GERHARD / HARTJE-GRAVE, NICOLE (Hrsg.): Hans von Marées. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2008. 303 S., 25 €.
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