Wer den Namen Luhmann hört, denkt automatisch: „Systeme“. Doch was genau versteht Niklas Luhmann (1927-1998) unter dem Begriff? Dietmar Gensicke bietet in seinem Buch mit dem schlichten Titel „Luhmann“ dem Leser eine knappe wie präzise Einführung in die komplexe Systemtheorie von Luhmann.
Die Zentralfrage ist, wie organisiert sich die Gesellschaft? „Ausgangspunkt und Dramaturgie dieses Rundgangs“ ist für Gensicke die zentrale Luhmannsche Frage: Wie baut eine Gesellschaft soziale Ordnung und einen inneren Zusammenhang auf? „Diese soziologische Frage ist einfach gestellt, jeder Antwortversuch muss jedoch äußerst komplexe Sachverhalte mit einbeziehen“, gibt Gensicke dem Leser die Marschroute durch nicht immer einfaches philosophisches Gelände vor.
Der Ausgangspunkt ist die alltägliche Kommunikation. Nach einer kurzen Sondierung des Terrains und grundsätzlichen Bemerkungen zur Luhmannschen Theorie, beginnt Gensicke die Bergtour in die Luhmannsche Gedankenwelt nicht mit der Frage „Wer war zuerst da: Henne oder Ei?“, also der spekulativen Ursachenforschung. Sondern er springt gemeinsam mit dem Leser in das Alltägliche, „mitten in den alltäglichen Erfahrungsraum gesellschaftlichen Lebens hinein“. „Es geht im Wesentlichen um zwei Fragen: 1. Welches Gebilde habe ich, aus grober Entfernung betrachtet, mit der Theorie Niklas Luhmanns vor mir, wie ist ihr Stellenwert einzuschätzen? 2. Was macht die Beschäftigung mit seiner Theorie für die Leser (…) zu einem lohnenswerten Unterfangen?“
Im zweiten Kapitel stimmt Gensicke den Leser ein auf den spezifisch Luhmannschen Tonfall und dessen Blickwinkel sowie das innere begriffliche Zusammenwirken der Theorie. Ausgangspunkt ist für Gensicke die „Zentralerfahrung gesellschaftlicher Existenz, (…) die Kommunikation“. Wir alle reden, schreiben, lesen, hören, fühlen … – kurz: Wir kommunizieren auf vielfältige Weise miteinander. Kommunikation gehört zum Alltag. „Ihre Beschreibung scheint uns wegen der Alltäglichkeit des Phänomens unmittelbar vertraut.“ Gensicke zerlegt den Vorgang in seine Bestandteile, zeigt, wie sie zusammenwirken und beschreibt wichtige Einflussgrößen für diesen Prozess. „So kann allmählich ein Bild von der begrifflichen wie modellhaften Komplexität der Luhmannschen Beschreibung entstehen.“
Kommunikation tritt in einer Gesellschaft massenhaft auf und folgt anscheinend bestimmten Bahnen. Aber wie und warum funktioniert das, was sind die Voraussetzungen dafür? den Fragen geht Gensicke im dritten Kapitel unter der Überschrift „Problem der Stabilität“ in sozialen Systemen auf den Grund. Indem Gensicke die Luhmannschen Bedingungen für Stabilität benennt und zueinander in Beziehung setzt, kann er die Vielzahl kommunikativer Vorgänge des Luhmannschen Modells in einen größeren Wirkungszusammenhang einbetten. „Der Fokus vergrößert sich somit vom Einzelvorgang der Kommunikation zum umfangreichen Bedeutungsgefüge der Gesellschaft.“
Im vierten Kapitel schließlich widmet sich Gensicke einer klassischen soziologischen Problemstellung: Er fragt nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Luhmann nimmt zur Frage, wie eine Gesellschaft die Menschen, die in ihr leben, integriert und ihr Zusammenleben sichert, zwar eine provozierend andere Perspektive auf die klassisch soziologische Problemstellung ein, doch die Frage ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Vorstellung von sozialer Integration.
Gensicke zeigt auf, dass gemäß Luhmann unsere Gesellschaft sehr spezifische Auffassungen und Anforderungen transportiert, was wir unter einem modernen Individuum verstehen und für uns selbst alltäglich umsetzen. „Die Integration all dieser individualisierten Personen in die Gesellschaft geschieht in den Einzugsbereichen gesellschaftlicher Organisation und nur vermittels dieser Organisationen.“ Nur die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Organisation (übrigens einer der Luhmannschen Schlüsselbegriffe), gibt Aufschluss über die soziale Integration.
Gensicke geht dann zum Begriffspaar Individuum/ Organisation über, mit dem das begriffliche Dual Inklusion und Exklusion verbunden ist. Mit diesem Begriffspaar betritt Gensicke das Terrain moralisch gefärbter Diskurse der Luhmannschen Theorie. Zum Abschluss umreißt Gensicke die Funktion von Moral in der Luhmannschen Theorie, um dann „den Ertrag der Überlegungen Luhmanns für die normative Reflexion gegenwärtiger sozialer Integrationsprozesse auszuloten.
Luhmanns Genauigkeit in der Begriffsbildung, seine stark ausdifferenzierte Terminologie und der hohe Grad an Abstraktion machen den Zugang zur Systemtheorie nicht gerade leicht. Gensicke führt kurz und klar in die zentralen Begriffe und Zusammenhänge der Luhmannschen Universaltheorie ein. Wer sich näher mit Luhmann beschäftigen möchte, hält mit Gensickes Buch einen veritablen Leitfaden durch die hohe Komplexität der Systemtheorie in Händen.
Von Karin Istel
Literaturangaben:
GENSICKE, DIETMAR: Luhmann. Reclam, Stuttgart 2008. 137 S., 9,90 €.
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