Von Andreas Heimann
REINBEK (BLK) – Verunsicherung ist ein Grundmotiv in Paul Austers neuem Buch. Dies drückt sich schon in der Eingangsszene aus: Da sitzt ein alter Mann auf einem schmalen Bett, über ihm eine Kamera, die sekündlich eine Aufnahme von ihm macht. In den Wänden stecken Mikrofone, die alles aufzeichnen, was in dem Raum zu hören ist. Die Fenster sind durch blickdichte Metallplatten verschlossen. Der Mann weiß nicht, dass er beobachtet wird. Er weiß nicht, wo er ist, warum er dort ist, nicht einmal, wer er ist.
Auster lässt seine Hauptfigur im Dunkeln tappen, genau wie die Leser seines anspielungsreichen und ausgesprochen gelungenen Romans „Reisen im Skriptorium“. Die Spannung bei der Lektüre entsteht gerade durch die Unsicherheit, die beide teilen.
Denn dieser alte, senile Kerl, der in seinem blau-gelb gestreiften Pyjama dahinvegetiert, hat keine Identität und keine Geschichte. Es lässt sich schwer sagen, ob er ein Gewaltverbrecher in einer psychiatrischen Klinik ist oder ein Demenzkranker, an dem neue Medikamente getestet werden. Sein Gedächtnis ist löchrig. Am Nachmittag kann er sich an den Vormittag schon nicht mehr erinnern. Auch körperlich ist er ein Wrack. Nur mit Mühe schafft er es, ohne Hilfe auf die Toilette zu gehen.
Auster gönnt ihm keinen Vornamen, er nennt ihn Mr. Blank – eine Leerstelle, ein subjektloses Nichts. Der Leser kann ihm zuschauen, wie er hilflos nach sich selbst sucht. Wirklich sympathisch wird er einem nicht. Im Gegenteil, ein beklemmendes Gefühl bleibt. Zu Blanks wenigen Aktivitäten gehört das Lesen der Texte, die in seinem Zimmer liegen. Einer davon berichtet von einer Reise in eine Stadt am Rand der Zivilisation namens Ultima, eine Geschichte über Verrat und Eifersucht, Agenten und Aufständische, die Blank für bare Münze nimmt – dabei ist der Text Fiktion.
Die Literatur erscheint glaubhafter als die Wirklichkeit. Und die Grenzen zwischen beiden verwischen. „Reisen im Skriptorium“ heißt der Roman – in der Schreibwerkstatt also. Auster will ausdrücklich Einblicke in das eigene Schreiben zulassen und fordert den Leser heraus, den Bauplan für seinen mehrschichtigen Text zu entschlüsseln.
Wie auch früher schon lässt er Personen aus anderen Werken auftauchen: Anna Blume zum Beispiel, die Blank pflegt, kennen Auster- Leser aus „Im Land der letzten Dinge“. Selbst John Trause, der Autor der Erzählung, die Blank liest, tauchte schon in „Nacht des Orakels“ auf. Und auch andere Figuren sind alte Bekannte. Auster, vor kurzem sechzig Jahre alt geworden, zitiert sich ausgiebig selbst.
Der Roman endet mit einer überraschenden Pointe: Blank findet auf seinem Tisch einen weiteren Text, diesmal mit Deckblatt und Titel. „Reisen im Skriptorium“ heißt er. Und als Blank anfängt zu lesen, stellt er fest, es ist seine Geschichte. Sie beginnt wortgleich wie der Roman selbst.
Auster hat in den 60er Jahren an der Columbia Universität in New York Literaturwissenschaft studiert. Jetzt liefert er Anglisten jede Menge Stoff für Aufsätze und seinen übrigen Lesern ein Werk, das sich viele bestimmt nicht nur einmal vornehmen werden.
Literaturangaben:
AUSTER, PAUL: Reisen im Skriptorium. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2007. 174 S., 16,90 €.
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