In der öffentlichen Debatte ist Verantwortung für NS-Verbrechen eine Schuld, welche die ganze, ungeteilte Existenz des Täters betrifft. Ihm wird, vor allem wenn er an exponierter Stelle beteiligt war, keine neutrale Privatsphäre neben seinen „dienstlichen“ Untaten zugebilligt, er soll mit seiner ganzen Individualität haften. Das bringt Probleme für die Familienangehörigen mit sich, denn die Vorstellung von „Familie“ verlangt das genaue Gegenteil: Loyalität, Zuneigung und Zusammenhalt eines natürlichen, quasi blutmäßig begründeten Verbandes, unabhängig vom Tun und Lassen, von Schuld, Reue und Sühne. Dies ist ein im Prinzip unlösbarer Konflikt, das Buch Richard von Schirachs „Der Schatten meines Vaters“ zeugt davon.
Unordnung und frühes Leid
Richard von Schirach ist der jüngste Sohn Baldur von Schirachs, des obersten HJ-Führers und Gauleiters von Wien. Seinen Vater, der von den Alliierten zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, lernt er bewusst erst bei Besuchen im Kriegsverbrechergefängnis Spandau kennen. Seine Jugenderinnerungen wirken auf den ersten Blick merkwürdig unfertig. Die Handlung hat keine konsistente Struktur, enthält Zeitsprünge und Wiederholungen. Nebensächliche Banalitäten und kluge, wichtige Beobachtungen wechseln in bunter Folge. Jedem anderen Buch würde man dies als Mangel ankreiden, doch bei diesem Thema erweist es sich als äußerst angemessen, glatte Formulierungen, wohlgeordnete Schubladen und sichere Urteile zu vermeiden. Richard von Schirach, das ist die große Stärke seines Buches, will weder verurteilen noch verteidigen, sondern verstehen. Dazu stürzt er die Kiste seiner Erinnerungen auf den Tisch, um mit dem Leser darin zu wühlen. Planlos, so scheint es zunächst. Er nimmt Anlauf zu einer ausschweifenden Familiengeschichte, schwärmt dann von wilden, naturnahen Kinderjahren am Walchensee, ergeht sich in anekdotischen Momentaufnahmen aus der Schulzeit im Internat. Reportagehafte Skizzen von surreal-kafkaesken Gefängnisbesuchen folgen, in denen plötzlich die absolute und absurde Inkongruenz von Strafritual und Schuld aufblitzt. Reflexionen über die 1080 Briefe umfassende Korrespondenz mit dem Vater – die „Vaterspeise“ wird sie von den Geschwistern genannt – leiten schließlich zum Haupt- und Kernteil hin, zur Schlusskatastrophe: Die Freilassung des Vaters 1966 macht die Entfremdung zwischen Vater und Sohn offenkundig. Die lange Jahre hindurch aufrechterhaltene Illusion einer Vater-Sohn-Beziehung zerplatzt, ach was, sie erlischt einfach, sang- und klanglos.
Im Schatten der Mutter
Richard von Schirach hat das Buch „Der Schatten meines Vaters“ genannt; doch zuerst sollte man vom Schatten der Mutter reden. Henriette von Schirach, bekannt als die einzige NS-Größe, die wenigstens zaghaft bei Hitler wegen der Judendeportationen vorgesprochen hat und dafür vom „Hofe“ verbannt worden ist. Selbst von Spruchkammerverfahren und Haft bedroht und ständig in finanziellen Schwierigkeiten, bringt sie ihre vier Kinder durch die Wirren der Nachkriegszeit, verliebt sich dann in einen etwas windigen Geschäftsmann, lässt sich zum Entsetzen der Mitwelt wie der Kinder, die dies als Verrat interpretieren, scheiden. Unternimmt dennoch Schritte, um eine Begnadigung ihres Ex-Mannes zu erreichen. Der kleine Richard wächst zuerst bei seiner Kinderfrau, dann in Internaten bzw. bei Wirtsleuten in der fränkischen Provinz sehr selbständig auf. Richard von Schirach schildert seine Mutter ambivalent, aber, bei allem zu spürenden Schmerz, durchaus gerecht und sympathisch, als impulsive, spontane, lebenshungrige junge Frau. Im kleinen Detail jedoch kommt der Riss in der Familie zum Ausdruck, als der Inhalt eines vertraulichen Briefes des Sohnes durch sie in die Presse gelangt. Oder als sie hinter seinem Rücken seinen geliebten Terrier weggibt.
Ende einer Illusion
Dies ist denn auch das eigentliche Thema des Buches: Die Zerstörung von Familie, genauer die Zerstörung von Illusionen über die „Familie“ – und zwar im Grunde auch ganz ohne den nationalsozialistischen Hintergrund. Ähnlich wie bei der Mutter sind es auch im Verhältnis zum Vater die kleinen, unscheinbaren Geschehnisse, die den Mythos vom fernen Vater als „eingekerkerten König Richard Löwenherz“ destruieren. Als er etwa in einem Brief anfragt, ob der junge Richard denn auch schon Einladungen zu Teegesellschaften erhalte, und sich damit als hoffnungsloses Fossil einer erledigten Zeit offenbart. Überhaupt ist dieser Briefwechsel ein reines Paradoxon: Er ist der einzige Weg, während der Haft die Familienbande aufrecht zu erhalten – und betreibt tatsächlich das genaue Gegenteil. Der Sohn berichtet von den aufregenden fünfziger Jahren – mit Nabokov und Picasso und dem Tagebuch der Anne Frank – und reibt damit dem Vater unter die Nase, wie hoffnungslos abgeschnitten er im „Kokon“ der Spandauer Zelle von seiner Lebenswelt ist. Umgekehrt hält sich Baldur von Schirach, die Parodie eines Erziehungsberechtigten, eigensinnig an den längst desavouierten Werten seiner Jugendzeit fest und empfiehlt – „da musst Du aber mal ran jetzt“ – Goethe!
De te fabula narratur
Ein Konflikt also, wie er sich so oder so ähnlich in vielen Familien der fünfziger und sechziger Jahre abgespielt hat. Insofern ein Buch für viele Leser dieser Generation, vom Autor farbig, spannend und überzeugend erzählt. Das besondere im Fall Schirach ist lediglich, dass die künstlich aufrechterhaltene Distanz der Haft die wirkliche Distanz zwischen Vater und Sohn lange, viel zu lange überdeckt und verschleiert hat. Auch die Haftvorschrift, nicht über NS-Themen reden zu dürfen, hat dazu beigetragen. Die mit der Freilassung geschaffene Nähe und Intimität bringt unweigerlich den Eklat, der angesichts der bislang nur im Raum gestandenen, nun aber mit Macht hereinbrechenden Frage nach der Stellung Baldur von Schirachs zu seiner Verantwortung allerdings heftiger ausfällt, als in „normalen“ Vater-Sohn Konflikten. Ob die Verstocktheit des Alten oder die moralische Rigorosität des Jungen den größeren Anteil daran hat, ist eine müßige Frage. Was bleibt als Eindruck, als Lehre aus dem Buch? Man sollte nicht in der Familie politisieren. Wirklich nicht.
(Herbert Späth)
Literaturangaben:
SCHIRACH, RICHARD VON: Der Schatten meines Vaters. Carl Hanser Verlag, München / Wien 2005. 384 S., 24,90 €.