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Wahlverwandtschaftliches und die „wahre“ Ulrike

Neue Biografien über das Leben der Ulrike Meinhof

Von: JENNY SCHON - © Die Berliner Literaturkritik, 29.04.08

 

Die Reaktion war sehr verschieden unter den Westberliner Studenten und Studentinnen, als im Mai 1970 die Nachricht durch die Medien tickerte, dass in ihrer Nähe in Dahlem Ulrike Meinhof und andere Andreas Baader befreit hatten und ein Bediensteter verletzt wurde. Von Entsetzen bis klammheimlicher Freude reichte das Spektrum, wenn in der Folge die RAF das Establishment terrorisierte. Ulrike Meinhof hatte in einem Interview mit der französischen Reporterin Michèle Ray im „Spiegel“ die Tat damit gerechtfertigt, dass „die Bullen (…) Schweine“ seien, „der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch… und natürlich kann geschossen werden.“ So steht es auf Seite 287 von Jutta Ditfurths Meinhof-Biografie.

Immer wieder war auf Veranstaltungen, die lange schon vor 1968 begannen, im Republikanischen Club in Westberlin und sonst wo, diskutiert worden: Gewalt an Sachen ja, an Personen nein. Dennoch war bis dato die Gewaltfrage nicht das zentrale Thema. Die meisten jungen Leute wollten Frieden und keinen Vietnamkrieg, fetzige Musik und keine Bevormundung.

Schon in den fünfziger Jahren, trotz noch vorhandener Kriegsschäden, erlaubten sich junge Leute fröhlich zu sein. Die Mädchen trugen Petticoats und tanzten Rock’n’Roll mit Überschlag nach den Rhythmen von Bill Haley und Elvis the Pelvis. Für die, die kein Englisch konnten, gab es Conny Froboess und Peter Kraus, die deutsche Ausgabe der Rock’n’Roller. Mag sein, dass das eher für die Kinder der Unterschichten gedacht war, aber es war auch ein Protest gegen die vermuffelten Alten, und zwar weltweit, und hatte kaum mit der Nazivergangenheit zu tun.

In der bürgerlich-protestantischen Meinhof-Großfamilie hatte es jede Menge Nazis, Sympathisanten und Opportunisten gegeben. Aber auch die Familie der Renate Riemeck, die nach dem frühen Tod von Ulrikes Mutter ihre Ziehmutter wurde, wird von Jutta Ditfurth belastet. 1940 hatten sich Renate und Ingeborg Meinhof an der Philosophischen Fakultät in Jena kennen gelernt. „Auch die junge Renate Riemeck verehrte wie ihre Mutter Rudolf Steiner, den Begründer der okkulten, elitären und rassistischen Anthroposophie. Sie las seine Bücher und reiste mehrfach in das anthroposophische Zentrum im schweizerischen Dornach, wo sie 1938 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft wurde. Sie würde ihr Leben lang Anthropophin bleiben. Sie war begeistert von Jena. ‚Was konnte man nicht alles in Jena sehen und erleben!’ Die Deportation der Jenaer Juden hatte begonnen. Sie steckte sich stolz ihr Goldenes HJ-Abzeichen an. Nach 1945 würde sie behaupten, das habe ihr ‚bis in die Kriegszeit Schutz vor Belästigung durch die NSDAP’ gewährt“ (S. 35).

Ulrike und ihre ältere Schwester Wienke wuchsen in diesem Milieu auf. Am 2. März 1949, da sind die Mädchen vierzehn und siebzehn Jahre alt, stirbt die Mutter. Da sei für sie die ganze Welt gestorben, sagte Ulrike Meinhof später. Mag sein, dass diese tragischen Umstände vieles erklärbar machen, verallgemeinerbar sind sie nicht.

Auch auf dem literarisch-philosophischen Gebiet brach in den fünfziger Jahren eine neue Ära an. In Amerika machten die Beatniks von sich reden, von Frankreich kam der Existenzialismus um Sartre und Camus. Mit ihren Stücken wurde ein neues junges Theater bespielt. Die deutschen Nachkriegsautoren hatten die Gruppe 47 gegründet. Überall entstanden Debattierclubs, so auch der Berliner Argument-Club. Nach dem Rock’n’Roll kam der Twist, und es wurde getwistet, dass sich der Kopf drehte.

Junge westdeutsche Arbeitnehmer wurden vom Berliner Senat angeworben, weil dem ummauerten Westberlin junge Arbeitskräfte fehlten. Als sie dann 1967 gegen den Schah und den Vietnamkrieg demonstrierten, waren es schon zehntausende, auch junge Männer, die in Westberlin nicht zur Bundeswehr mussten. Sie sind nicht vor den westdeutschen Nazis geflohen, sondern weil es in Berlin für die jungen Leute einfach attraktiver war als auf dem platten Lande, wenngleich natürlich auch kein Paradies. Aber es waren überwiegend Kinder der Unter- und Mittelschicht, die hier Handwerker waren, in Fabriken gingen oder studierten. Auch der Zweite Bildungsweg hatte einen enormen Zuwachs in Westberlin zu verzeichnen.

Jutta von Ditfurth (Jahrgang 1951) war zu dieser Zeit ein Backfisch, wie Teenies damals hießen, und offenbar von einem „Klassenproblem“ beherrscht. Während der ostdeutsche Karl-Eduard von Schnitzler sein „von“ beibehielt, weil es eh bekannt war, wie er meinte, hat sie ihr „von“ später abgelegt, aus Klassensolidarität.

Während Ulrike Meinhof für die von der DDR unterstützte Zeitschrift „konkret“ in der Tat gute Kolumnen schrieb, wurde auf dem Ku’damm Wolfgang Neuss’ „Neuss Deutschland“ verkauft, eine ebenfalls kritische Postille, die sich mit der „konkret“ messen konnte. Es wurde gegen rassistische Filme wie „Monde Cane“ (1962) und „Afrika Addio“ (1966) demonstriert und der Republikanische Club gegründet.

Die Liberalisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft war schon längst im Gange, aber das schicke Hamburg und Sylt, in dessen Umfeld sich Ulrike Meinhof und Gatte Röhl mit den Geldern aus der DDR vergnügte, haben das vielleicht nicht so richtig mitgekriegt oder zu sehr durch die Ostbrille betrachtet, denn beide waren Mitglied der verbotenen KPD beziehungsweise der Nachfolgeparteien. Meinhof ist allerdings 1964 ausgetreten. Beide hatten sich in den fünfziger Jahren in der Anti-Atomwaffenbewegung engagiert, aber dann doch zu sehr in die Fänge der DDR begeben, die nach dem Mauerbau in Berlin den Großteil ihrer Sympathisanten verloren hatte.

Auch noch nach ihrer Scheidung von Röhl und der Übersiedlung mit ihren Zwillingstöchtern nach Westberlin im Februar 1968 nutzten ihre DDR-Kontakte, den Künstler Peter Weiss, der am Berliner Ensemble in Ostberlin ein Theaterstück inszenierte, als Redner für den Internationalen Vietnamkongress an der Technischen Universität Berlin zu gewinnen. Die SED hatte ihn zuvor noch gewarnt, „sich mit Dutschkes Barbaren einzulassen“.

Jutta Ditfurth versteift sich doch tatsächlich zu der Behauptung: „Bis heute wird die Gründung der Rote Armee Fraktion (RAF) an die Befreiung an Andreas Baader geknüpft, die zwei Jahre und drei Monate nach diesem Kongress stattfand. Dabei gibt es kein Gründungsdatum, sondern viele Momente, Zustände, Ereignisse und Konflikte in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, die die RAF möglich machten. Der Vietnamkongress war nicht der erste und würde nicht der letzte Mosaikstein sein“. Das ist eine Behauptung, die abertausende Teilnehmer so nicht stehen lassen wollen, denn sie sind nicht bei der RAF gelandet, und die meisten RAF-Mitglieder waren an diesen frühen Protesten gar nicht beteiligt, weil sie noch zu jung waren.

Die Ambitionen bürgerlich-intellektueller Kreise, sich der Unterschichten anzunehmen, waren gewachsen. Besonders fortschrittliche Studenten wollten aus angeblicher Klassensolidarität lieber eine Arbeiterin bumsen, weil die urwüchsiger und nicht so verschroben wie eine Gebildete sei. Bevor sie in den Untergrund gingen, hatten sich Gudrun Ensslin und Andreas Baader der Sozialarbeit verschrieben, Jan Raspe nannte seine Diplomarbeit „Zur Sozialisation proletarischer Kinder“.

Ulrike Meinhof entdeckte ihr Herz für weibliche Fürsorgezöglinge in den so genannten Erziehungsheimen, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen sollten. Bei den Diskussionen im Vorfeld des Meinhof-Films „Bambule“, dem Ditfurth ein eigenes Kapitel widmet, standen nicht wenigen die Haare zu Berge. Selbst jene, die froh waren, dass sie es über den zweiten Bildungsweg von unten an die Universität geschafft hatten, sollten jetzt zustimmen, dass die revolutionäre Klasse die bildungsfernen Unterschichtmädchen in den Heimen waren. Diese Diskussion geht ja bis heute weiter, das Bildungsproblem der Unterschichten, besonders mit Migrationshintergrund, und damit ihre berufliche Zukunft, kann doch nicht dadurch gelöst werden, indem man ihnen einredet, sie hätten ein Recht auf Faulheit und Aufsässigkeit!

„Mit Fürsorgeerziehung wird proletarischen Jugendlichen gedroht, wenn sie sich mit ihrer Unterprivilegiertheit nicht abfinden wollen. Mit Fürsorgeerziehung werden sie bestraft, wenn sie durch individuelle Befreiungsaktionen versucht haben, ihre miese Lage zu verbessern“, schreibt Ulrike Meinhof in einem Hörfunkfeature im Dezember 1969.

Von dem brauchbaren Ansatz, sich für eine Verbesserung der Situation der Jugendlichen einzusetzen, von dieser halbwegs politischen Basisarbeit hat sich die RAF im Untergrund abgeschnitten. Ditfurth führt mehrmals Meinhofs Unwillen darüber an, dass die meiste Zeit für die Beschaffung von Geld und Waffen drauf gehe – ohne politische Orientierung.

Man braucht nicht viele Semester in den übervollen Psychologie-Seminaren herumgehangen zu haben, um die starke Empathie der Jutta mit der Ulrike zu bemerken. Mitunter ist es schwer, beide auseinander zu halten. Vom Leben des Kleinkindes Ulrike bis in die Studentinnenjahre versucht Jutta Ditfurth, die Leserschaft in ein Ich hineinzuziehen, das sie selbst zu sein scheint, bedroht von nazistischen Verwandten und deren Umfeld. Wie so häufig geht Ditfurth suggestiv vor.

„Die achtjährige Ulrike war eine Leseratte (…) Sie verschlang ‚Die Kinderfarm’ ein Buch über eine Kindheit im kolonialen Deutsch-Südwestafrika (…) sie las ‚Der Riese Ohl und das Hannesle’ und ‚Grimms Märchen’. Die Rote Armee war in der Offensive. In Afrika wurde die Wehrmacht zum Rückzug gezwungen. Die USA und Großbritannien waren auf Sizilien gelandet. Ihre Flugzeuge griffen Tag und Nacht deutsche Städte an. Deutschland verlor den U-Boot-Krieg. Der Krieg, den die Deutschen in die Welt getragen hatten, kam zu ihnen zurück“ (S.39).

Ditfurth verbindet ihre Recherche mit der Wahrnehmung des Kindes. Das alles soll dazu dienen, die Folgerichtigkeit des Meinhofschen Werdegangs durch die Umstände im Nazideutschland und die Mittäterschaft und den Opportunismus ihrer Familie zu begründen, besonders nach dem frühen Tod der Mutter durch die Pflegemutter Renate Riemeck, einer tüchtigen Wissenschaftlerin, die die Fahne in den Wind hängt. Ergo musste Ulrike Meinhof zwangsläufig Revolutionärin werden. Warum es die vielen anderen Kinder aus ähnlichen Verhältnissen dann unterlassen haben, sich der RAF anzuschließen, lässt die Autorin offen.

Jutta Ditfurth hat – trotz ideologischer Verblendung – ein spannend geschriebenes Buch vorgelegt, wenngleich es für Eingeweihte nicht viel Neues bietet. Sie hat sechs Jahre recherchiert und 1000 Zeitzeugen befragt. Eine Gescheiterte vertieft sich in das Leben einer Gescheiterten – das ist für eine fiktive Geschichte ein interessanter Stoff.

Leider will uns Jutta Ditfurth weismachen, dass wir Schuld daran tragen, dass Ulrike Meinhof gescheitert ist – und damit auch sie, Jutta Ditfurth. Meinhof war keine Mörderin sondern Revolutionärin und somit hätten wir gegen die Haftbedingungen mehr tun müssen, die zu ihrem Tode führten, die beide „Isolationsfolter“ genannt haben, gegen die Faschistisierung des deutschen Staats kämpfen müssen, wenn es sein muss wie die Baader-Meinhof-Gruppe.

Man hätte verhindern müssen, dass solche Leute wie Gustav Heinemann im März 1969 überraschend Bundespräsident werden. „Obwohl Heinemanns Wähler dieselben sind, die den Polizeiterror gegen die Linke verschärfen, freuen sich die Opfer des Polizeiterrors über seine Wahl und setzen Hoffnungen auf ihn. So dient seine Person der Verschleierung dessen, was sich tatsächlich abspielt …Er verschafft den Faschisierern Vertrauenskredit, gräbt den linken Kritikern das Wasser ab, isoliert die Linke von ihren Sympathisanten“ (konkret 7/69/Ditfurth S. 251).

Jutta Ditfurth, die zum so genannten fundamentalistischen Flügel der Grünen gehörte, war von 1984 bis 1988 Bundesvorsitzende der Grünen. Sie ist heute Stadtverordnete der „Ökolinx-Antirassistischen Liste“ in Frankfurt am Main, die außerhalb Frankfurts kaum bekannt ist.

Nachdem man sich durch die Ditfurth-Biografie gewühlt hat mit ihren emphatischen Bekenntnissen, ist die nüchtern zurückhaltende Beschäftigung mit Ulrike Meinhof in der Promotionsschrift von Kristin Wesemann richtig erholsam. Endlich ist es möglich, den emotionalen Ballast abzuwerfen, den gefallenen Engel, den Ditfurth aus der Meinhof gemacht hat, zu begraben und sich mit der knallharten, berechnenden Kommunistin, die die Meinhof in Wirklichkeit war, zu beschäftigen.

Wesemann lässt es nicht zu, dass Meinhof als Idealistin durchgeht, die durch die Verhältnisse Terroristin geworden ist. Die Autorin zeigt, wie die Vergangenheitsbewältigung gegenüber dem Dritten Reich missglückt, wie Meinhof dies gar nicht wirklich will, sondern die Karte des Anti-Kommunismus, den sie in der Bundesrepublik sieht, zieht und dagegen hetzt.

Jeder Wandel in der Bundesrepublik interpretiert sie als Schritt zurück in die finstere Zeit von 1933 bis 1945, für die die Deutschen auf ewig Verantwortung tragen werden. Sie glaubte, eine neue Schuld zu verhindern, angeleitet in den frühen Jahren von ihrer Ziehmutter Renate Riemeck. Im Kommunismus, den sie nicht näher beschreibt, sieht Meinhof die einzige Möglichkeit, die Schuld der Vergangenheit zu tilgen. Das hielt sich auch, als Willy Brandt, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, Bundeskanzler wurde. Meinhof vertraute keinem Wandel.

Auch nachdem sie 1964 aus der KPD ausgetreten war, traute sie keinem, der in der bundesdeutschen Demokratie eine Heimat fand. Sie unterstützte weiterhin die Anti-Faschismustheorie der DDR, obwohl diese nach dem Mauerbau viele der noch vorhandenen Sympathien verspielt hatte.

Sie war nach dem Verbot der KPD 1956 maßgeblich an der Gründung der Deutschen Friedensunion (DFU) beteiligt, dennoch behauptete sie: „Niemand glaubt im Ernst, dass die DFU die 5-Prozent-Hürde nimmt“. Sie hatte 1957 erfolglos die SPD bei den Wahlen unterstützt, 1961 die DFU – seither sprach sie sich gegen die Parteiendemokratie aus.

Ähnlich wie die DDR-Kommentatoren stand Meinhof den Provokationen der Kommunarden skeptisch gegenüber. Sie hätten es mit ihrem Puddingattentat auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey, der im April 1967 West-Berlin besuchte, nur auf Provokation und Presseecho abgesehen. Sie verstand nicht, warum die Gruppe ihrem privaten Exhibitionismus frönte. Wer damals dabei war, hat das anders in Erinnerung. Endlich war es gelungen mit anderen Mitteln, mit Happening-Mitteln, die auch internationale Künstler anwandten, auf ein Problem, in diesem Fall auf die leidende Bevölkerung in Vietnam, aufmerksam zu machen.

Als dann der Schah-Besuch in West-Berlin im Juni 1967 eskalierte und der demonstrierende Theologie-Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, waren schon abertausende Demonstranten beteiligt. Sie führten sich mit dem Slogan „wir sind eine radikale Minderheit“ ad absurdum. Ebenso bei einer anderen Demonstration, nachdem die Polizei Auflagen erteilt hatte, dass sie pro Demonstrant aus den eigenen Reihen der Protestler 50 Ordner bereitstellte. Ohne eine straffe Organisation einer Partei oder ähnlichen war es gelungen, wirklich pfiffige Demonstrationsformen von einem Tag auf den nächsten zu finden.

Zu diesem Zeitpunkt war Meinhof jedoch noch in Hamburg bei der ehemals von der DDR finanzierten Zeitschrift „konkret“ eingebunden. Als sie sich von ihrem Ehemann Röhl und letztlich auch von der Zeitschrift gelöst hatte und mit ihren Zwillingstöchtern in Westberlin im Februar 1968 eintraf, war eigentlich diese spontane Art zu demonstrieren schon vorbei. Der Vietnamkongress an der TU war bereits gut durchorganisiert. Und die Demonstrationen wegen des Attentats auf Rudi Dutschke im April 1968 gegen den Springer-Konzern hatten bereits andere Qualitäten und Formen. Man war gewaltbereiter geworden.

Die undogmatische Art der Demonstrationen hatten sicherlich mehr Jugendliche zu den Demonstrierenden geführt als die kommunistischen Dogmen von der Avantgarde der Arbeiterklasse und Weltrevolution.

Und plötzlich war Schluss mit lustig. Der SDS hatte sich aufgelöst, 1969 wurde in Westberlin die Hochschulreform durchgeführt, die Freie Universität bekam einen Präsidenten, der – das erste Mal in ihrer Geschichte – kein Hochschullehrer, sondern „nur“ ein Assistent war. Ulrike Meinhof hatte andere Schlüsse gezogen. Nach der Baader-Befreiung aus einem Westberliner Institut ging sie in den Untergrund, während viele ihrer Weggefährten den Langen Marsch durch die Institutionen antraten.

Kristin Wesemann hat versucht, streng wissenschaftlich das Material zu sichten und zu der Biografie der Ulrike Meinhof in Beziehung zu setzen. Wesemann entschied sich für den „Königsweg“:

„Der Biograph verwebt sein Subjekt mit der politischen Zeit und entscheidet gleichsam, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen. Drei Möglichkeiten sind denkbar. Entweder bildet das institutionelle Programm des Lebenslaufs den Untersuchungsrahmen, der durch die Frage nach der subjektiven Dimension ergänzt wird und beschreibt die Biographie damit als Randphänomen. Oder die subjektive Konstruktion steht im Mittelpunkt und es wird nach ergänzenden Aspekten des institutionellen Regelsystems gefragt. Ein dritter Ansatz betrachtet die vorgeordnete Realität, den Lebenslauf, und die subjektive Konstruktion, die Biographie, als zwei Aspekte eines umfassenden Untersuchungsgegenstandes. Zumal für eine politische Biographie scheint dies der Königsweg zu sein, denn nur so lassen sich Widersprüche und Brüche im Leben einer Person erklären, lässt sich scheinbar irrationales Verhalten rationalisieren, während zugleich das Verhalten herausklingt, das in einer bestimmten Lebenslage „normal“ oder durchschnittlich gewesen wäre. Im Falle Ulrike Meinhofs ist es daher nur rechtens, sich auf den Königsweg einzulassen.“

Da die Ditfurth-Biografie feuilletonistisch-episodenhaft angelegt ist, liest sie sich flott. Kristin Wesemanns Biographie jedoch ist wissenschaftlich fundiert, und es gelingt ihr, aufgrund des schriftlichen Materials, das Meinhof hinterlassen hat, nachzuweisen, dass sie den Weg von der überzeugten Kommunistin zur überzeugten Terroristin nicht aufgrund der bundesrepublikanischen Wirklichkeit gegangen ist, sondern aus ihrer Überzeugung heraus, dass diese Bundesrepublik bekämpft werden muss.

Literaturangaben:
DITFURTH, JUTTA: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Ullstein, Berlin 2007. 480 S., 22,90 €.
WESEMANN, KRISTIN: Ulrike Meinhof. Kommunistin, Journalistin, Terroristin – eine politische Biografie. Nomos, Baden-Baden 2007. 439 S., 49 €.

Verlage

Jenny Schon ist Publizistin und Schriftstellerin, lebt in Berlin und Trutnow/Tschechien und arbeitet als freie Journalistin für dieses Literatur-Magazin


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