So erzählt es die Legende: In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts tauchte wie aus einem Niemandsland (es war die bayerische Provinz) eine junge Frau mit einem Theaterstück auf, das von jungen Leuten, ihren sexuellen Nöten, von Zwang und Traurigkeit handelte, geschrieben in einer Sprache, die es vorher nicht gegeben hatte: einem krausen Gemisch aus Bayerisch und einer seltsam unangemessenen Hochsprache. Die Debütantin fand Förderer, darunter einen nur wenig älteren Dichter, der schon berühmt war, das Stück – es hieß „Fegefeuer in Ingolstadt“ – wurde im April 1926 in einer einzigen Sonntagnachmittagvorstellung der „Jungen Bühne“ in Berlin aufgeführt (bei der einige der damals bekanntesten jungen Schauspieler der Hauptstadt ohne Honorar auftraten) und entfesselte einen großen Skandal.
Zwar erkannten einige der wichtigsten Kritiker Berlins seine Qualität, aber die Mehrheit der Berichterstatter verriss es gnadenlos. Danach wurde es vierzig Jahre lang nicht gespielt. Die junge Frau fühlte sich durch dramaturgische Änderungen in der Aufführung, die der Dichter vorgenommen hatte, missverstanden. Das Berliner Abenteuer währte nur kurz. Zwar schrieb sie weiter, Prosa vor allem und ihr zweites Stück, „Pioniere in Ingolstadt“, wurde von mehreren Theatern aufgeführt.
Dennoch ging sie zurück in die Stadt ihrer Geburt, deren Name in den Stücktiteln steht, heiratete einen Sportler und Tabakhändler, half ihm in seinem Großhandel, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder entdeckt, gilt seitdem als eine der stärksten Autorinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bekam Literaturpreise und sogar eine Gesamtausgabe ihrer Werke, ehe sie 1974 im Alter von dreiundsiebzig Jahren starb. Die Legende handelt von Marieluise Fleißer und dem schon berühmten (und berüchtigten) Dichter Bertolt Brecht.
An dieser Legende haben viele mitgewebt: Kritiker, Herausgeber und die Autorin selbst mit ihren späteren autobiografischen Äußerungen. „Für die alt gewordene Frau ist die Fiktion ebenso wahr, wie es die Fakten sind.“
Aber was sind die Fakten? Die Literarwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel, hat sich daran gemacht, sie zu finden und damit die Legende, die allerorts für die ganze Wahrheit gehalten wurde, zu korrigieren.
„Alles, was wir über die junge Marieluise Fleißer wissen, stammt aus Bildern, die sich andere von ihr gemacht haben – und aus ihrer eigenen, spät erzählten Geschichte. Die Opferrolle allein kann es nicht sein, die diese ungewöhnlich eigensinnige Schriftstellerin in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt. Ich möchte Marieluise Fleißer als Handelnde ausfindig machen, nicht nur als eine (zumeist schlecht) Behandelte. Ich möchte ihre eigenen Handlungsräume, ihre Handlungsmöglichkeiten sichtbar machen, die Lebensbedingungen, unter denen sie geschrieben, die literarische Szene, in der sie agiert hat, möchte dem Echo, das ihr Werk ausgelöst hat, nachgehen.“
Eine ungemein schwierige Aufgabe, die nichts anderes bedeutet als den Versuch, all die „Übermalungen“ vom Legendenbild sorgfältig und geduldig abzulösen, um die originalen Formen und Farben unter dem dicken Firnis aufzufinden, den so viele darübergestrichen haben. Sie geht vor wie eine Restauratorin, die manchmal mit Wattestäbchen, manchmal mit dem Skalpell den Untergrund freilegt: die Wahrheit der Marieluise Fleißer. Dabei ist ihr Ansatz ungewöhnlich für eine Biografie: „Nicht, dass man mit Hilfe der Darstellung dieses Lebensweges ihre Dichtung so viel besser verstehen oder gar erklären könnte. Der biografische Hintergrund ist zum Verständnis kaum erforderlich. Erforderlich ist vielmehr das Gegenteil, das Abtragen der autobiografischen Übermalung durch die Rezeption.“
Hiltrud Häntzschel ist diese Recherche weithin gelungen. Sie kennt die Quellen. Auch die, die erst in den letzten Jahren (lange nach der Publikation der Gesamtausgabe) zugänglich wurden. Sie hat ihre Untersuchungen weit ausgedehnt, um die jeweiligen Zeitumstände zu begreifen und einleuchtend darzustellen. Sie schreibt einen klaren, ja schönen Stil (man muss nur ihre Beschreibung der Stadt Ingolstadt lesen: ein glänzendes, kaum mehr als eine Seite langes Porträt) und ist so gerüstet, das Leben der Fleißer noch einmal zu erzählen.
Sie hat sich um ihre Studienzeit in München gekümmert. Sie kann nachweisen, dass „Fegefeuer in Ingolstadt“ zwar von Bertolt Brecht überarbeitet, aber keineswegs verbogen wurde, dass ihre Beziehung zu ihm nur wenige Monate dauerte und sicher nicht der Grund war für ihren Rückzug aus der Welt der Literatur. Dort war sie noch lange nach dem Skandal eine feste Größe, ihre Texte wurden publiziert, wenn schon, wie ihr Roman „Mehlreisende Frieda Geier“ oft mit Verspätung, sie war so bekannt, dass sie in den späten Zwanziger Jahren immer dann gefragt wurde (oft als einzige Frau!), wenn Zeitschriften und Zeitungen die damals beliebten Umfragen machten. Und wenn etwas sie gebrochen hat, so nicht die mangelnde Anerkennung, sondern eine jahrelange unglückliche Beziehung zu dem hochstapelnden, rechtsnationalen, an chronischer Selbstüberschätzung leidenden, mit deutlich sadistischen Zügen behafteten Literaten Hellmut Draws-Tychsen, aus dessen Fängen sie nur die Heirat mit dem illiteraten Tabakhändler Joseph Haindl rettete, in dessen Geschäft sie aushalf, während der ganzen Nazijahre.
„Ihre Bewegungen sind Fluchten. Damit ist nicht Eskapismus gemeint in ruhige Gewässer, sondern nicht immer rational zu begründende, eher kopflos zu nennende Überläufe in die entgegengesetzte, keineswegs bequeme Richtung, nicht selten vom Regen in die Traufe.“
Geschrieben hat sie auch während dieser Zeit, sogar ein unaufführbares Stück „Karl Stuart“. Aber so recht wollte ihr nichts mehr gelingen. Schreibverbot freilich hatte sie nie. Es gibt sogar einige (schlechte) Texte, in denen sie noch unter Draws Einfluss Konzessionen an einen törichten Nationalismus gemacht hat. „Das ist die kaum zu fassende Tragödie in Fleißers Leben, dass sie sich diesem Mann in abgöttischer Liebe ausgeliefert hat, sich ökonomisch ausbeuten ließ, bis rein nichts mehr da war, und zugleich – und das ist noch ungleich katastrophaler –, dass sie ihre Begabung, ihren Verstand, ihre Kunst für ihn prostituiert hat.“ Das ist ein hartes Urteil: Häntzschel kann es in ihrem Buch belegen.
Erst als eine junge Generation, die der Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr und Rainer Werner Fassbinder sie mit Erfolg aus ihrer Isolation befreite (was kurz nach dem Krieg einigen älteren Kollegen, die sie sich ihrer gut erinnerten, nicht gelungen war), als sie wieder zu schreiben begann und in den Prosastück „Avantgarde“ ihre eigene Geschichte als die der Cilly Ostermeier, erzählte, sie dabei „übermalte“ und Brecht darin die unrühmliche Rolle zuwies, die seitdem als ihre autobiografische Wahrheit gilt.
Damit hat sie auch ihre Rolle in der Öffentlichkeit fixiert: sie war das Opfer falscher Liebhaber, eines groben Ehemanns, uneinsichtiger Kritiker, Bertolt Brechts und der Zeitläufte. Man nahm ihr Cilly Ostermeiers Geschichte als die eigene ab, obwohl sie doch, genau gelesen, sehr viel mehr von der unglücklichen, masochistischen Beziehung zu Draws enthält, als von der kursorischen zu Brecht. Doch nun war sie allerwärts anerkannt, wurden ihre Stücke gespielt, ihr Talent und ihre Kraft gefeiert; sie war endlich dort angekommen, wohin sie immer hatte kommen wollen: im Zentrum der Literatur ihrer Zeit. Warum hätte man ihren späten Korrekturen nicht trauen sollen?
Häntzschel ist es gelungen, den verschlungenen Wegen der Fleißer auf jene Weise zu folgen, die sie sich vorgenommen hat: sie kann die Widerständigkeit einer Frau zeigen, deren Struktur viel weniger simpel war, als es die Legende will. Den Bruch in ihrer Existenz hat nicht Brecht verschuldet, sondern eben jener Draws-Tychsen, dem sie viel zu lange treu war, obwohl doch erotischeTreue sonst nicht eben zu ihren Eigenschaften gehörte.
An der Bedeutung des Werks ändert das nicht ein Jota, vielmehr macht es dieses in vielen Passagen deutlicher und womöglich noch wichtiger. Das Bild leuchtet. Sie war ein Opfer, aber eines, das sich oft auch zu wehren wusste, welches sehr häufig das für sie Richtige getan hat, auch wenn es anderen als unverständlich erschien. Etwa in der Ehe mit dem braven Haindl, der sie zärtlich liebte, sie hat offenbar mit ihm so lange gut zusammengelebt, wie sie brauchte, um die Erniedrigung zu verarbeiten, die ihr zuvor angetan worden war.
Sie sei „für das Unbedingte geboren“, hat sie einmal geschrieben: es hat sie gebeutelt und sie hatte allen Grund, dies später in ihr Lot zu bringen, ihre Version vergangenen Lebens. Um die zu sichern, hat sie in ihren späten Jahren manche ihrer Texte eingreifend „bearbeitet“, aber auch viele, die sie nicht mehr für gelungen hielt, ausgesondert, gar vernichtet. Erst eine kritische Ausgabe ihrer Werke könnte das alles klären. Hiltrud Häntzschels Buch ist dazu eine gute Einleitung.
Literaturangaben:
HÄNTZSCHEL, HILTRUD: Marieluise Fleißer. Eine Biographie. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2007, 410 Seiten, gebunden, 22,80 €.
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