Nur in seltenen Augenblicken des Lebens, meist in lebensbedrohlichen Situationen, stellen sich Menschen existenzielle Fragen. Dann, wenn sich „der Fußboden auftut“, die Zeit stillzustehen scheint und das bisherige Leben blitzschnell vorüberzieht, sind wir auf der Ebene, von der aus Peter Handke in seinem Theaterstück „Spuren der Verirrten“ schreibt.
Es scheint, als habe ihn das blanke Entsetzen über die Vergänglichkeit des Menschen gepackt. Die im Buch geäußerten Gedanken sind, wie beim Theater, in Auftritte geordnet. Oft sind es Paare, die miteinander kommunizieren, sich austauschen.
Sinnlose Schritte
Manchmal kommt ein Dritter, meist als Zwischenrufer, ins Spiel. Dadurch wird Spannung aufgebaut. Es wird hinterfragt, festgestellt: „Das Grün grünt nicht mehr. Die Stille stillt nicht mehr. Die Herzen herzen nicht mehr.“ Eine nachdrückliche Frage stellt der Autor auf der Rückseite des Buches: „ Unsere Spuren - wären sie aufgezeichnet: was für ein Bild würden sie wohl ergeben?“
Den Ansatz einer Antwort legt er einem Protagonisten in den Mund. Dieser erzählt, dass während seiner Abwesenheit ein Rotkehlchen, wahrscheinlich durch den Kamin, ins Haus geflogen sei. Dem Hausbesitzer bot sich beim Heimkommen ein großes Durcheinander. „Federn lagen überall zerstreut zwischen den zu Boden gefallenen Büchern, Gläsern, Geräten. Dann fand ich den dazugehörigen Vogel unter einem Tisch, längst tot.“
Spuren sind nicht immer buchstäblich. Sie ritzen sich in das Gedächtnis und in das Gefühlserleben ein, sie vergehen nicht unbedingt mit dem Tod. Sie erscheinen einem Unbekannten vielleicht als sinnlose Schritte, die natürlich zu keinem Ziel führen konnten. Es stellt sich die Frage, ob der Verursacher der Spuren an einen möglichen Betrachter dachte und bemüht war, mit seinen Spuren etwas auszudrücken.
„Mich fühlen, endlich einmal“
Glücklich muss derjenige sein, der, im sicheren Sessel sitzend, diese Erfahrungen in Handkes Buch lesen darf. Wenn er die Zeilen „richtig“ deuten kann, ist er Nutznießer und Teilhaber an Fabulierungen, die ihn im günstigen Fall zum Nachsinnen über das eigene Leben anregen und ihm selbst wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen wären.
In diesem Sinn ist das Buch „Spuren der Verirrten“ ein Katalysator. Dieser funktioniert, er ist unerbittlich wie eine Geburt und nicht als liebevoll, streng oder unbequem zu werten, wird aber zweifelsohne von einigen Lesenden so empfunden.
Gallebitter, wenn der eine Kranzträger dem anderen mit einem Blick auf den Verstorbenen gesteht: „Sein Sterben hat mir den Tag gerettet, den einen wenigstens. Ah, stürbe er doch weiter, weiter und weiter. Immerzu könnte ich seinem Zähneknirschen zuhören, seinem Aufbäumen zuschauen. Und dabei an mich denken. Mich fühlen, endlich einmal.“ Interessant die Argumente, die Gedanken, wenn man es versteht, auch zwischen den Zeilen zu lesen.
Die Verlassenheit als Ziel
Nicht zu leugnen ist dabei die Gefahr, dem Autor Gedanken unterzuschieben, die er in einem anderen Sinn verstanden haben will. Nicht immer passen Leser und Schreiber zusammen. Obwohl der Name des Autors die Lesenden neugierig darauf macht, ob endlich ein Gleichdenkender gefunden sei. Es bestünde somit die Möglichkeit, in dessen Texten Lösungsvorschläge zu finden. Wofür auch immer.
Gefühle sind es, die Handke als Betrachter analysiert, dem Lesenden die Möglichkeit gibt, intim mitzuempfinden. Wie fühlt sich ein Mensch, der einen anderen küssen will, dessen Hand sich in die eines anderen Menschen nestelt und dann weg geschlagen wird?
Eine tatsächliche Antwort gibt Handke nur indirekt, indem er die Personen teilnehmend und hinterfragend reagieren lässt. „Ich lasse dich nicht allein“, ist die tröstliche Grundaussage eines Mannes zu seiner Frau. Dieser beschreibt die schlimmen Situationen, die beide meisterten. Sie fragen, ob die momentane Verlassenheit das Ziel sei. „Ja“, lässt Handke einen Dritten resümieren.
Literaturangaben:
HANDKE, PETER: Spuren der Verirrten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 88 S., 14,80 €.
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