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Kostbare Zeit ohne Leben

Ein überraschend reifer Debütroman des jungen polnischen Autors Mikolaj Lozinski

© Die Berliner Literaturkritik, 11.12.08

 

Männern fällt es im Allgemeinen nicht leicht, Gefühle zu zeigen, geschweige denn, über sie zu reden. Die amerikanische Neuropsychologin Louann Brizendine verglich in ihrem Buch „Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer“ die emotionale Ebene der Geschlechter gar mit Verkehrswegen: „Frauen haben einen achtspurigen Highway um ihre Gefühle auszudrücken, Männer nur eine Landstraße“, ist ihre Auffassung. Ein holpriger Feldweg scheint der des Ich-Erzählers Daniel, eines 38-jährigen und bisher erfolglosen Schriftstellers schwedischer Nationalität, der in New York lebt, zu sein. Zudem kommt bei ihm noch eine ausgeprägte zwischenmenschliche Unsensibilität hinzu.

Zu Beginn des Romans „Reisefieber“ von Mikolaj Lozinski erreicht Daniel die Nachricht vom Tod seiner Mutter Astrid, von der er sich seit Jahren distanziert und zu der er den Kontakt vollständig abgebrochen hat. „Er konnte doch so viele Sprachen, Millionen von Wörtern. Wieso kam er jetzt nicht auf ein einziges? Wie fühlt sich ein Mensch, der die Mutter verloren hat? Wie fühle ich mich?, grübelte er. Ich fühle mich wie ein Mensch, der die Mutter verloren hat. Sinnlos. Anders kann ich es nicht sagen.“ Daniel fliegt nach Paris, um die letzten Angelegenheiten zu regeln.

Paris, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, offenbart viele Spuren Astrids, die Daniel nach und nach entdeckt und verfolgt, um den „Code für all das abzulesen, was in den achtunddreißig Jahren mit ihm geschehen war“. Er besucht Menschen, die im Leben der Mutter zuletzt eine Rolle gespielt haben. Und so lassen die Gespräche mit Spencer (ihrem Liebhaber), Louise (ihrer Halbschwester) sowie mit ihrer Psychotherapeutin und dem Arzt der letzten Stunde zum ersten Mal ein echtes Interesse an der Person der Mutter entstehen.

„Bruchstücke von Erinnerungen tauchen vor seinen Augen auf, er nahm vergessen geglaubte Gerüche wahr, hörte Musik von einer kratzenden Schallplatte, dann war ihm, als zöge es ihm den Boden unter den Füßen weg und als würde er gleich salziges Meerwasser schmecken.“ Immer wieder tauchen schemenhafte, bedrohliche Bezüge zu einem Griechenland-Urlaub auf und führen Daniel letztendlich zu einem schrecklichen Familiengeheimnis. Schließlich gleicht sein Aufenthalt immer mehr einer tiefenpsychologischen Therapie für sein gestörtes Emotionsempfinden. Er holt die Räume seiner Vergangenheit in die Gegenwart.

Der Leser erfährt schon am Anfang des Romans eine suggestive Reizübertragung, die der polnische Autor nahezu perfekt beherrscht. So wird man bei der Lektüre bereits während des Fluges mit den idiosynkratischen Eigenarten des jungen Mannes konfrontiert. Daniel hat einen geradezu manischen Zwang, sich in exakt getimten Abständen die Fingernägel zu schneiden. Während der gesamten Handlung wird sich sein innerer Zustand nahezu perfekt an ihrem Längegrad abmessen lassen. Gleichzeitig sind sie sein Zeitmesser.

Das immer wiederkehrende Motiv der zu langen Fingernägel ist charakteristisch für Lozinskis Gespür für Kleinigkeiten, aus denen er seine Erzählung zusammensetzt. Neben Daniels Spurensuche und der damit einhergehenden Lebensrekonstruktion und -analyse flicht der Autor kontrapunktisch eine zweite und dritte, ebenfalls im Präsens angesiedelte Erzählebene ein, in der er Daniels Mutter Astrid zu Wort kommen lässt sowie die offensichtlich doch nicht ganz so harmonische Beziehung Daniels zu Anna beleuchtet. Alle Begebenheiten stehen in einem engen Kontext und sind Ausdruck enger Abhängigkeiten.

Mikolaj Lozinski entwirft ein nahezu fachmännisches, dezent-psychologisches Profil Daniels und seiner Mutter Astrid. Zudem ist das Debüt des 26-jährigen Polen in einer angenehm klaren, leicht und flüssig zu lesenden Sprache gehalten, geprägt von einem sanften, melancholisch-hypnotischen Sprachrhythmus. Nichts Ungestümes, Drängendes oder gar Konstruiertes offenbaren diese Zeilen.

Der Autor weiß die Melange aus Gedanken, Erinnerungsfetzen, Wunschvorstellungen als Sammelsurium von Bruchstücken harmonisch zu verweben. Kleine Andeutungen, vage Hinweise und plötzliches Abschwenken halten zudem durchweg die Spannung. Und so kommt kein „Scherbenhaufen“ heraus, kein „abstraktes Müll-Museum“, als das der Protagonist sein Leben bezeichnet.

Statt dessen findet sich dank einer harmonisch-unauffälligen Strukturierung des Roman-Konstrukts und einer großartigen Visualisierung – die sich keineswegs nur auf Schwarz und Weiß festlegt, sondern eine Mischung vielfältiger Farbnuancen aufweist – ein stilles, unprätentiöses Buch, das einen wunderbaren Nachhall hinterlässt. Zugleich zeugt es von einer ungewöhnlichen Reife seines jungen Autors. Die Übersetzerin Roswitha Matwin-Buschmann weiß dieses psychologische „Farbkonzept“ wunderbar ins Deutsche zu übertragen.

Von Heike Geilen

Literaturangaben:
LOZINSKI, MIKOLAJ: Reisefieber. Roman. Übersetzt aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. DVA, München 2008. 293 S., 19,80 €.


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