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Ein Gefangener seiner Fiktionen

Gerhard Roths Roman „Das Labyrinth“

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 06.04.05

 

Was ist dieser Roman, dieses Kompendium der heterogensten Stile und Schreibformen: ein Zeitgeschichtsroman, ein imaginativer Roman, ein Reise- oder Fluchtroman, ein autobiografischer Roman, ein Tagebuchroman, ein Kriminalroman, ein Narrenroman, ein Roman über die Schizophrenie, ein Metaroman, der die Entstehung des Textes in die Handlung miteinbezieht – oder alles zusammen?

Vor allem ist es ein enzyklopädischer Roman, die geistreiche Verschmelzung verschiedener Diskursweisen, der fiktionalen und der wissenschaftlich spekulativen. Schon in seinem siebenbändigen Monumentalwerk „Die Archive des Schweigens“ (1980-91) hat sich der gelernte Mediziner Gerhard Roth als Anthropologe, Ethnograf, Zoologe, Archäologe, Anatom, Pathologe, Psychoanalytiker, Historiograf, Kriminalist, Archivar, Sammler, Chronist, Reporter, Stadtführer, Essayist, Literatur- und Kunsthistoriker erwiesen. Er wollte hier ein Psychogramm von ganz Österreich geben. Einen zweiten Zyklus hat er 1995 mit „Die See“ begonnen und in eigenständigen Themenkomplexen mit „Der Plan“ (1998), „Der Berg“ (2000), „Der Strom“ (2002) fortgesetzt.

Widerspiegelung von Wirklichkeit

Die Rettung einer schöpferischen Imagination sei heute nicht im mythischen, existentialistischen oder surrealistischen Modus zu finden, sondern in einer imaginären verantwortlichen Betrachtung wissenschaftlicher Fakten und Hypothesen. So steigt Roth auch in seinem jetzt vorliegenden Roman herab in die Katakomben Wiens und der österreichischen Geschichte, betreibt eine Art „Gebäude-Archäologie“ mit der Wiener Hofburg und anderen bedeutenden Bauwerken, die er hinterfragt, er öffnet ebenso die Räume der Realität, unabsehbare Räume, wie er kühne Entdeckungsfahrten in die Traum-, Vorstellungs- und Erinnerungswelt unternimmt, sich mit Begriffen wie Wahnsinn und Normalität oder Schuld und Unschuld auseinandersetzt.

Da Roth die Wirklichkeit als Fälschung oder die Widerspiegelung von Wirklichkeit als Täuschung erscheint, will er aus der Täuschung in der Fälschung und der Fälschung in der Täuschung eine Art poetischer Wahrheit herausfiltern.

Es ist fast unmöglich, die Fabel dieses Romans zu erzählen. Denn Roths Experiment mit Gattungen, Erzählformen und Schreibweisen führt zu einem Erzähl- und Bilderstrom, der immer wieder durch verschiedenste Einschübe unterbrochen wird, und damit zu einem zunehmenden Orientierungsverlust für den Leser. Das gestörte Bewusstsein der Figuren lässt sie zu Camouflage, Mimikry, Tarnung, Schweigen und Verschweigen bis zur Verstellung und bewussten Lüge greifen. Nichts ist hier so, wie es scheint, keiner sagt das, was er wirklich denkt, auf nichts kann man sich verlassen, am wenigsten auf die Sprache. Deshalb versteht Roth auch das Schreiben als „Verbrechen-Aufdecken, das hinter und in der Sprache liegt, ein In-das-Innere-der-Sprache-Schauen“. Roths Opus Magnum „Das Labyrinth“ kennzeichnen Stilpluralismus und das In- und Gegeneinander verschiedener Erzählstränge.

Kafkas Sterbehaus

Ausgangspunkt ist der Brand im Redoutensaal der Wiener Hofburg, dem Herz der einstigen Habsburger Monarchie. In deren labyrinthischen Gebäudeteilen wohnt auch der Psychiater Heinrich Pollanzy, der seinen ehemaligen, von Pyromanie besessenen Patienten und jetzigen Pflegegehilfen Philipp Stourzh als Brandstifter in Verdacht hat. Stourzh hat seine Magisterarbeit über die Infantinnenbilder von Velazquez abgebrochen und eine neue über „Leben und Tod des letzten österreichischen Kaisers Karl oder der Untergang der Monarchie“ begonnen. Er hat deshalb auch Pollanzy über die 1 000 in der Hitlerzeit ermordeten Geisteskranken in der Gugginger Anstalt ausgefragt. Beim gemeinsamen Besuch von Kafkas Sterbehaus, dem einstigen Privatsanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg, in dem Kafka seine letzten Wochen verbrachte, entwickelt Stourzh seine Auffassung, dass Kafka in seiner Erzählung „Ein Hungerkünstler“ über die Geisteskranken in  Gugging geschrieben und mit seinem eigenen Tod, den Kafka selbst schon mit symbolischen Konstruktionen überformte, den der Geisteskranken vorweggenommen habe.

Damit wird ein „Generalthema“ Roths angeschlagen: Das Thema des „offen daliegenden Wahnsinns der österreichischen Geschichte und des versteckten des österreichischen Alltags“. Roth geht vom pathologischen und kriminellen Charakter der österreichischen Geschichte aus und bedient sich der Verdrängungspsychologie Freuds als Methode, um nachzuforschen, was in der Geschichte ausgespart wird – bewusst oder unbewusst.

Der eigentlich Schizophrene ist nicht der Patient, sondern der Arzt, der die Kunst des Vergessens, Verdrängens, der Verstellung und Anpassung glänzend beherrscht. Wer dagegen irre an der Gesellschaft wird und an ihr zerbricht, das sind die Gescheiterten, Asylierten und Verrückten in den Anstalten. Menschen wie der im Schweigen der Teilhabe am Schwindel sich widersetzende Franz Lindner, die für Roth so etwas wie die Garanten der Menschenwürde sind. Lindner ist auch die eigentliche Hauptfigur des Romans, selbst wenn er mitunter ganz aus dem Blickfeld gerät.

Lindners scharfsichtig-verwirrter Geist

Der stumme Schizophrene ist im „Künstlerhaus“ der Gugginger Anstalt untergebracht, schreibt mit unentschlüsselbaren Zeichen an einem Manuskript und zeichnet Porträts, so seinen Vormund Jenner als Mörder. Alle wollen Lindners Geheimnis ergründen: Stourzh, der Pfleger, der um Lindners Vertrauen buhlt und heimlich dessen Habseligkeiten durchsucht, Pollanzy, der ihn als Demonstrationsfigur und psychopathologischen „Fall“ auf einem Kongreß in Toledo vorführen will, Astrid, Logopädin in Gugging, die mit Lindner schläft, um mehr von ihm zu erfahren, schließlich der Schriftsteller, der an einem Buch über Lindner und seit 30 Jahren an einer Abhandlung „Wahn und Sinn – Vom Sinn und Unsinn des Wahns“ schreibt.

Als Pollanzy in Toledo von Stourzh tätlich angegriffen wird, verschwindet Lindner, setzt neue Recherchen der an ihm interessierten Personen in Gang und wird schließlich tot aufgefunden. Im Unterschied zu „Landläufiger Tod“, dem dritten Band der „Archive des Schweigens“, in dem der Leser in Lindners scharfsichtig-verwirrten Geist Einblick gewinnen durfte, bleibt hier dessen ver-rückte Perspektive weitgehend im Dunkeln, hat man sich mit den Mutmaßungen der anderen Figuren zu begnügen.

Aber damit ist nur ein Erzählstrang unter anderen genannt worden. Zunächst ist das Geschehen aus der Perspektive Pollanzys beschrieben worden, dann in einer showdownartigen Auflösung aus der Perspektive von Stourzh, der bekennt, dass er die Tagebücher Pollanzys und andere persönliche Unterlagen von ihm gestohlen und Pollanzys Bericht selbst verfasst habe. Schließlich heißt es im „Editorischen Nachwort“, dass die beiden Bücher Teile des Manuskriptes seien, an denen Franz Lindner arbeite. Das Verwirrspiel nimmt also kein Ende.

Wahnreich im Totenhaus

In einer englischen Broschüre über Kolumbus liest Stourzh, dass man den Wahnsinn nicht anders entdecken kann als Kolumbus Amerika: „Indem man in die Irre geht und selbst an der Nase herumführt und schließlich verschwindet und falsche Spuren hinterlässt.“ Das kann zugleich als das poetische Credo Roths wie seiner Figuren verstanden werden. Worum es hier geht, das ist die Unscheinbarkeit des Extremen, die Alltäglichkeit des Anormalen, der schmale, aber tiefe Abgrund, der Wahnsinn von Normalität, Schuld von Unschuld, das Opfer vom Täter, den Verbrecher vom reputierlichen Bürger trennt. Wahnsinn und Wahrheit liegen nach Roth in Wirklichkeit dicht beieinander und sind nur schwer voneinander zu trennen.

Die Nachforschungen über den letzten österreichischen Kaiser Karl treiben Stourzh, in Begleitung von Astrid, bis in dessen Exilort Madeira und nach Madrid und dann allein bis an den Starnberger See, wo ihm der Sohn Otto von Habsburg ein nichtssagend-ausweichendes Interview gibt. Denn das Interesse Stourzh’ an Kaiser Karl ist verbunden mit Erkundungen über seine Urgroßmutter, die damals als Dienstbotin den Kaiser ins Exil begleitet und von diesem eine goldene Taschenuhr mit den Insignien des Kaisers geschenkt bekommen hatte.

In seinem Exilsitz, der Quinta do Monte, einem inzwischen verfallenen Totenhaus, hat sich Kaiser Karl ein Wahnreich zusammenphantasiert, in dem er zu herrschen glaubte. War zunächst in den Ich-Erzählern Pollanzy und Stourzh die Spannung zwischen rationaler Ordnung und kreativer Subjektiviät, zwischen Normalität und Wahnsinn, Arzt und Patienten zum Ausdruck gekommen, wobei das wieder auf den Kopf gestellt wird durch die Aussage Strouzh’, dass er in die Rolle von Pollanzy hineingeschlüpft sei, so gibt es weitere sich ergänzende bzw. sich widersprechende Erzählperspektiven - von der freien Kombinierbarkeit der Erzählabschnitte und der Vertauschbarkeit der Kapitelabfolge ganz zu schweigen.

Stellvertreter-Funktion

Astrid, die Geliebte Pollanzys wie des Schriftstellers, die aber auch mit Stourzh und Lindner geschlafen hat, schaltet sich als dritte Erzählfigur ein und auch dem Schriftsteller wird das Wort zum Schluß-Plädoyer eingeräumt. Er hat noch einmal im Prado von Madrid  den Raum aufgesucht, in dem das vieldeutige Altersgemälde „Las Meninas“ von Velazquez ausgestellt sind: „Das Königspaar und die Prinzessin Margerita Teresa, die Zwerge, die Bedienten, der Hund und der Maler. Und an den Wänden ringsum die Narren. – Ich wusste, dass alles seine Richtigkeit hatte in diesem Saal. Und als ich ging, nahm ich mir vor, ein Buch zu schreiben, über die Könige, die Geisteskranken und die Künstler. – Und nicht zuletzt über mich selbst.“ Und dieses Buch hat Roth nun mit dem Roman „Das Labyrinth“ vorgelegt. „Alle Figuren bin ich selbst“, bekannte er einmal. Und vor allem der Gestalt des Schriftstellers im Roman scheint er eine Art Stellvertreter-Funktion zugewiesen zu haben.

Auch damit ist aber nur das dürre Erzählgerüst vorgestellt worden. Mit welcher Detailbesessenheit Roth bei seinen Recherchen vorgegangen ist, bezeugt nicht nur die umfangreiche Bibliografie im Anhang, sondern die Art und Weise, wie er im Roman Stadtführer, Reisebericht, Essaysammlung und wissenschaftliche Abhandlung zu einem voluminösen Konglomerat zusammenfasst. Selbst ergänzende, kommentierende Fußnoten wissenschaftlicher Schriften fehlen nicht und nehmen mitunter fast eine ganze Seite ein. Roth lässt uns durch die nur Eingeweihten bekannten Durchgänge und Treppen des Hofburg-Labyrinthes irren. „Ich bin davon überzeugt, dass nicht einmal der Burghauptmann alle Querverbindungen, Abkürzungen, Nebenstiegen, Wege und Umwege, die die Gebäudekomplexe miteinander verbinden, besser kennt als ich“, berichtet Pollanzy stolz.

In einer Fußnote versteckt, wird die Hofburg als Vorgabe für dieses Gedächtnis-Gebäude „Das Labyrinth“ ausgegeben. Im Blick auf die Außenschichten der Realität wird immer auch etwas von ihrem Kern sichtbar. Ebenso erhellend ist Pollanzys Besuch der Restaurationswerkstatt des Wiener Kunsthistorischen Museums, die Erinnerung an die Depots des Völkerkundemuseums oder die Gespräche mit Untersuchungsrichter a.D. Sonnenberg und Rechtsanwalt Jenner im Palmenhauscafé. Auch deren Verhalten entspricht kaum den Maßstäben der Norm, denn schon aus den „Archiven des Schweigens“ wissen wir, dass Jenner ein Mörder geworden und auch Sonnenberg in Verbrechen verwickelt ist. Gleichermaßen ausführlich wird die Psychiatrische Anstalt in Gugging, der exemplarische Ort der Ausgrenzung, vor allem das „Haus der Künstler“ und die Malerei und Dichtung der Geisteskranken beschrieben. Krankenhäuser, Nervenheilanstalten, Obdachlosenheime bilden für Roth seit je her jene Schauplätze, an denen sich im Verborgenen die Unterdrückungs- und Überwältigungsmechanismen an Wehr- und Sprachlosen vollziehen. Roth benutzt Techniken des Kriminalromans und erzählt seine Geschichten entweder mit dem Gestus von Stummfilmgrotesken oder im Tonfall wissenschaftlicher Abhandlungen.

Angst vor der Ereignislosigkeit und Wiederholung des Alltags

Allen Figuren eigen ist eine bleibende Irritation und Verstörung bei gleichzeitiger Klarheit und Nüchternheit eines diagnostisch-scharfen Denkens. Es ist Strouzh, als würde in der goldenen Taschenuhr der Urgroßmutter „ein winziges Modell der Monarchie in diesem Alltagsrelikt wie unter einer gläsernen Kuppel weiterexistieren“. Die Kugel, die ihm sein von der Vergangenheit belasteter Vater unglücklicherweise mit dem Jagdgewehr in den Kopf geschossen hat, sieht er als Beweis für die Zerstörungsvorgänge in der Welt an. Roth unternimmt signifikante Exkurse zu Giuseppe Arcimboldos „Ignis“, einer brennenden Büste, die aus verschiedenen Gegenständen zusammengesetzt ist, und zu Parmigianos „Selbstbildnis im Konvexspiegel“  – nicht von ungefähr die Lieblingsbilder von Strouzh.

Außerdem befasst er sich mit El Greco, Velazquez und Goya. Velazquez habe Kunst und Wirklichkeit als optische Täuschung ineinander übergehen lassen und dazu einen Spiegel benutzt, vor dem die dargestellten Personen agieren. Der gehörlose alternde Goya, der die „pinturas negras“, die „Schwarzen Bilder, gemalt hat, fürchterliche, in Alpträumen geborene Visionen, sei in zwei Welten (der Wirklichkeits- und der Kopfwelt) und zwei Zeiten (Gegenwart und Ewigkeit) zu Hause gewesen. Er habe sich zeitlebens mit dem Tod, dem Wahn, dem Hass, der Gier und der Niedertracht auseinandergesetzt. Der Künstler also als Übersetzer des Wahns in die Normalität, das Kunstwerk als das Selbstgespräch mit dem eigenen Wahn. Dahinter steht auch die Angst vor der Ereignislosigkeit und Wiederholung des Alltags.

Cervantes musste in seinem mehrschichtigen, kunstreich verflochtenen Romanepos „Don Quijote“, der erstmals auch literarische Erörterungen in den Roman einbrachte, ein Lügengebäude errichten, um die Abenteuer seiner beiden Helden, Don Qijote und Sancho Pansa, „des spitzfindigen Übergeschnappten und des spitzfindigen Einfältigen“, zu kommentieren. Wie Cervantes im „Don Quijote“ erscheint auch Roth als „Verfasser im Verfasser im Verfasser“. Auch Fernando Pessoa, der Portugiese, der unter verschiedenen Heteronymen gedichtet  und das legendäre, erst 47 Jahre nach seinem Tode veröffentlichte „Buch der Unruhe“ geschrieben hat, ein erbarmungsloses Dokument der Verlorenheit und Zerrissenheit des Ich in einer modernen Welt, wird als Vorbild für „Das Labyrinth“ genannt. Kafka habe in der Erzählung „Die Verwandlung“ ein Drehbuch zu einem Stummfilm mit Zwischentiteln entworfen, wie man auch Roths Roman bezeichnen könnte.

Ein Gefangener seiner Fiktionen

Roth will die psychischen Tiefenschichten freilegen, auf denen unsere Existenz beruht. Mal benutzt er das Mikroskop, mal das Fernglas, mal die Zeitlupe und mal den Zeitraffer, wechselt zwischen Mikro- und Makrostruktur, vermischt Sichtbares und Unsichtbares, Wirklichkeit und Wahn, Alltägliches und Visionäres. Die freilich nur im Geist bzw. in der Enzyklopädie existierende Welt ist für Roth ein unendliches Experimentierfeld für alle nur denkbaren Spekulationen und Häresien, Kombinationen, Kommentare und Variationen.

Und doch erinnert diese „Reise durch das Bewusstsein, durch Gedanken, Landschaften und durch die Stadt“ ein wenig an Kafkas Geschichte des Maulwurfs, der sich schließlich in dem raffinierten System seines Verteidigungsbaus wie in einem Labyrinth verirrt. Auch Roth scheint oft in Gefahr, sich in seinen Gängen, Assoziationen und Konstruktionen, in seinem Labyrinth von Innen- und Außenspiegeln zu verirren, ein Gefangener seiner Fiktionen zu werden.

Literaturangaben:
ROTH, GERHARD: Das Labyrinth. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 455 S., 19,90 €

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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