1999 hat Michael Cunningham für seinen Roman „The Hours“ den Pulitzerpreis gewonnen. Die Geschichte, die drei Frauenleben durch Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ verknüpft, wurde kurz darauf verfilmt und brachte Nicole Kidman als Virginia Woolf mit der schönsten angeklebten Nase der Filmgeschichte einen Oscar. Jetzt legt Cunningham einen würdigen Nachfolger vor.
„Helle Tage“ beschreibt wie sein Debüt in drei Episoden Einzelschicksale aus drei Epochen, die wieder durch Literatur miteinander verbunden sind. Diesmal ist das allerdings das Werk eines Mannes, nämlich Walt Whitmans Gedichtsammlung „Leaves of Grass“, mit der der Amerikaner zeitlebens genauso haderte wie Woolf mit ihrem Meisterwerk.
In der ersten Episode dient sie dem 12-jährigen Lucas im New York des Jahres 1865 als Abwechslung und Flucht vor der harten Realität. Er liest abends jeweils ein paar Kapitel und lernt ganze Abschnitte auswendig. Tagsüber arbeitet er an der Stanzmaschine, an der zuvor sein Bruder Simon verunglückt ist, und ernährt mit seinem Geld die Familie, weil weder sein Vater noch seine Mutter arbeiten können. Dass er die Schule schmeißt, diese Entscheidung hat er ganz allein getroffen.
Damals, heute und in Zukunft
Eine hohe Belastung für einen 12-Jährigen, das Leben eines Mannes mit Verantwortung zu führen. So ist es eigentlich kein Wunder, dass Lucas sich auch in anderen Dingen für einen Mann hält und nicht nur in Jobangelegenheiten seinen Bruder ersetzen möchte: Er wirbt mit unverhohlener Hartnäckigkeit um Simons Verlobte, die als einzige Erwachsene überhaupt für ihn da zu sein scheint – eine Zuneigung, die Lucas mit Liebe verwechselt und für die er sich schließlich, einer Vorahnung folgend, selbst opfert.
In der zweiten Geschichte sprengen sich ein paar Kids im heutigen New York in die Luft. Zuvor haben sie mit der Polizeipsychologin Cat geredet, die aus den Anrufen einzelne Zitate Whitmans identifizieren konnte. Diese Whitman-Fetzen sind letztendlich der Schlüssel zum Geschehen. Und zeigen der vom Alltag frustrierten Cat einen Weg zu einem neuen Leben.
In der dritten Episode, die in der Zukunft spielt, muss der Maschinenmensch Simon, der mit Whitman-Zitaten programmiert wurde, um seine Aggressivität zu kontrollieren, aus New York fliehen, als die herrschende, anatomisch rein menschliche Klasse alle Simultanten, Ausländer und Cyborgs zu verfolgen beginnt. Und während seiner Flucht mit der einem Drachen ähnlichen Nadianerin Katarin beginnt er plötzlich seine Existenz zu verstehen, kann zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Liebe und Verbundenheit spüren, während draußen um ihn herum die Apokalypse anzubrechen droht.
Literatur als Handlungsmotor
Im Gegensatz zu „The Hours“ hat sich Cunningham bei seinem zweiten Roman gegen die Verwebung der Geschichten entschieden und erzählt sie linear nacheinander. Doch natürlich sind sie dann doch über die Motive und durch die Suche der Protagonisten nach Freiheit und Selbstbestimmung miteinander verbunden. Aber nicht nur das: Immer wieder bringt Cunningham Gegenstände und geschichtliche Ereignisse aus dem alten New York in das jeweils neue ein, so dass man sich freut, wenn man scheinbar Nebensächliches beim Lesen wiedererkennt.
Und ganz nebenbei webt er gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Ausbeutung, versagende Sozialsysteme, mangelnde Bildung mit ein, die, wie im wahren Leben auch, das Handeln - oder vielmehr die bisherige Unfähigkeit der Protagonisten, zu handeln - näherbringen, aber nicht unbedingt erklären. Er führt die Figuren und damit den Leser stets nur an den Punkt, an dem die Überschneidung von Realität und Poesie lebensgefährlich wird.
Darauf zu reagieren, sozusagen die Stimme Whitmans in sich zu finden, liegt in jedermanns eigener Verantwortung, wenn man damit so etwas wie eine Quintessenz formulieren möchte. Die Literatur kann dabei ein Mittel sein, einen Weg zu finden, sich zu verändern. Stimmt, das haben wir so schon mal gelesen. Aber auch, wenn „Helle Tage“ „The Hours“ in vielerlei ähnelt: Der Gedanke, dass Literatur ein Handlungsmotor sein kann, ist ein schöner – und hier wunderschön dargelegt. Cunningham ist ein veritabler Geschichtenerzähler.
Literaturangaben:
CUNNINGHAM, MICHAEL: Helle Tage. Roman. Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt. Luchterhand Literaturverlag, München 2006. 384 S., 21,95 €.
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