Am Ende steht eine Entschuldigung. Für "einen Anfang, der kein Anfang war, und ein Ende, das kaum das Wort Ende verdient." Am Anfang ist sich die Autorin sicher: "Zu einer Geschichte wird es wieder einmal nicht langen." Bei so vielen vorweggenommenen Einwänden bleibt dem Rezensenten eigentlich nur noch die Aufgabe, diese gewagte cartesisch-montaignesche Meditation, diese rhapsodische Gedankenprosa, diese verkehrte Bilderstürmerei, in den Himmel zu loben.
Der Eingang zur Hölle
Auch weil sich Anne Weber mit diesem Buch in die Hölle begibt. Die Hölle, das ist die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit gibt es nicht. Die Wahrheit gibt es nicht. Also sind all diese Sätze falsch. Alter Skeptikertrick. Der Eingang zur Hölle befindet sich zufälligerweise genau an der Grenze zwischen Spanien und Frankreich, unterhalb von Perpignan, in einem kleinen Küstenort namens Cerbère, Zerberus.
Die Zerberianer haben sich von der von den Wirklichkeitsmenschen bewohnten Hölle abgewandt und leben ein fröhliches, eigenwilliges Leben im "spärlich erforschten Gebiet der Einbildung." Sie unterscheiden nicht zwischen dem Anderen, dem Wirklichen und dem Selbst. Auch bevorzugen sie es, "ihrer Lebenseinstellung gemäß, also bäuchlings beerdigt zu werden." Ihren Bewacher und Beschützer Zerberus füttern sie unter anderem mit fliegenden Tassen, Hasenohren oder den Spice Girls. Jeder Zerberianer besitzt einen Hund, mit dem er im Laufe der Zeit die Identität tauscht. Sybille Lewitscharoff lässt grüßen.
Aber natürlich gibt es eine Wirklichkeit. Aus der ruft der Vater an. Er, der Unverwundbare, der Mann ohne Körper, liegt im Sterben. Der einzigmögliche Beweis wäre also erbracht: "Ohne Tod keine Wirklichkeit." Wenn Cerbère die Vorhölle ist, dann liegt Port Bou auf der anderen Seite der Grenze, der Ort, wo, "wie eine Rutsche" ins Meer, ein Denkmal an den erzwungenen Freitod Walter Benjamins erinnert. Die andere Seite der Grenze steht so sehr für das Jenseits der Vorhölle wie für die Kindheit. In der Erinnerung verschmelzen die Gesichter des Vaters und Benjamins.
Der Vater erscheint als der "Spaziergänger, der durch das Leben seiner Kindheit wandelt und sie in allen Etappen ihrer Entwicklung [...] knipst", der, "wenn das Schiff ablegt, am Ufer steht und winkt." Nur jetzt, scheint es, hat sich die Situation verkehrt und die Tochter, Anne Weber, winkt auf einmal dem Vater zu. Als man sich trifft, an einer anderen Grenze, dem Rhein, rutscht die Erzählerin "in das Kind zurück", das sie war.
Der Götterhimmel aus Schriftstellern, der sie umgibt, bleibt wie in der Vergangenheit für den Vater unsichtbar. Der Gipfel, auf dem sich der Vater immer mit Leichtigkeit bewegte, ist für die Tochter eine Steilwand, an der man sich nur unter äußerster Kraftanstrengung aufwärts bewegen kann und ständig in Gefahr ist abzustürzen. Von Erklimmung ist gar nicht zu reden. So muss es bei dem "Hallihallo" der "Stippvisite" bleiben.
Der Zeit ein Netz entgegenweben
Es sind die großen Antworten, die Grenzen zwischen Ich und Du, Hier und Dort, Damals und Jetzt, Leben und Tod, die Anne Weber in Besuch bei Zerberus in Fragen verwandelt. In ihrem Schreiben geht es nicht nur um das Ganze, es ist das Ganze in einer Wirklichkeit, die sich ständig selbst abhanden kommt und wieder neu zusammengesetzt werden muss. "Die Welt nach links zu drehen, das wäre eine Beschäftigung, an der ich dauerhaft Freude haben könnte."
Das Bestehen der Welt ist jeden Tag neu zu beweisen, darin erweist sich die Unentbehrlichkeit von Sprache. Sie allein und keine Art rationaler Begründung vermag es, ein Gegengewicht zur eigenen Existenz auf der ebenfalls jeden Tag neu zu tarierenden Waage des Lebens darzustellen: "Wie verwenden wir unsere Zeit besser: lebendig oder tot?"
Das schmerzvolle Gefangensein in "der Kapsel seiner selbst" scheint dagegen evident: "Wie lästig das Menschsein ist!" Was kann man tun gegen den Sturmlauf der Gedanken? Was taten die Surrealisten? Was taten Benjamin und Robert Walser? Wie leicht haben es die Spinnen, die der Zeit einfach ihre Netze entgegenweben, ohne von dem Wissen darum erdrückt zu werden. "Tier sein!" Gottfried Benns Satz vom Leiden als Leiden an Bewusstsein fällt einem angesichts dieser depersonalisierenden, antirationalistischen Sehnsüchte ein.
Berauschende Bildersprache
Der Erzählgestus in Besuch bei Zerberus changiert ständig zwischen Albernem und Existenziellem, Erzählerischem und Assoziativem, Palaver und Aphorismus. Die Erzählperspektive wird einmal durch die erste Person Singular, dann Plural, dann durch die dritte Person präsentiert. Das Themenspektrum reicht vom Nonsens zur Erkenntnistheorie, von Privatmythologie zu autobiografischer Recherche. Mag sein, dass Weber die Langatmigkeit des Romanciers, die Inspiration des Novellisten oder die Prägnanz des Lyrikers vermissen lässt.
Mag sein, dass die Fähigkeiten dieser Autorin weniger im essayistisch-philosophischen Erörtern bestehen, wo sie zuweilen nur flachere Gewässer betritt. Webers herausragendes Talent besteht darin, ihre Fragen in eine einzigartige und berauschende Bilderwelt kleiden zu können. Das Abschweifende, Sanguinisch-Wechselhafte der Form tut dem keinen Abbruch, im Gegenteil. In ihrer wütenden Sprachmächtigkeit, ihrer poetischen Imaginationskraft, ihrer schwerelosen, unbedingten Ernsthaftigkeit ist sich diese Sprache selbst genug. Darauf kann die Autorin getrost vertrauen.
Literaturangaben:
WEBER, ANNE: Besuch bei Zerberus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 112 S., 18,90 €.