Was könnte man seinen nichtsnutzigen Nichten und Neffen zur Konfirmation schenken? Zu Weihnachten? Zum Geburtstag? Ein Buch! Ein Buch! Ein gutes Buch!! Vorausgesetzt, die jungen Herrschaften lassen sich überhaupt dazu herab, gedruckte Buchstaben wahrzunehmen. Welches Thema? Geschichte! Archäologie!! Das ist spannend und lehrreich, aber auch so weit von unserer Gegenwart entfernt, dass die Lektüre kaum größeren Schaden anrichten kann. Nun gut, man wird aufpassen müssen, dass die Rotznasen nicht auf den Einfall kommen, sich ihr Taschengeld durch Raubgräberei aufzubessern. Aber die Geschichte der Himmelsscheibe von Nebra zeigt ja abschreckend, dass solch barbarischen Strolche gelegentlich auch geschnappt und bestraft werden.
Ein Stern und einige Sternstunden
Die Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra ist eines von neun Kapiteln, in denen uns Rainer Vollkommer „Neue Sternstunden der Archäologie“ nahe bringen will. Von den ersten Tempeln, von Pyramiden und Hieroglyphen, Hethitern, Babyloniern, Minoern, Assyrern und Azteken handeln die anderen, erzählt wird jeweils die wechselhafte Geschichte von Entdeckung, Ausgrabung, Entzifferung. Das Buch ist keine Einführung, keine Kurzzusammenfassung, sondern eine Hinverführung, ein Teaser, ein Appetitanreger. Es will zur Beschäftigung mit dem Thema verleiten. So ein Unternehmen – es ist schon das zweite Buch des Autors über archäologische Sternstunden - verlangt Mut, Tollkühnheit, vermessene Hybris. Denn schließlich gibt es schon seit etwa einem halben Jahrhundert das perfekte Werk zu diesem Gegenstand: C. W. Cerams Roman der Archäologie – „Götter, Gräber und Gelehrte“. Im Kanon der Sachbuch-Klassiker weit oben angesiedelt, brillant und unübertreffbar. Das habe ich damals zu meiner Konfirmation bekommen.
Kann man, darf man, soll man da etwas hinzufügen? Ja, erstaunlich, aber ja! Es gibt eben Geschichten, die man wieder und wieder, zwei-, drei-, vielmals erzählen kann. Gerade in den Feldern, die auch Ceram beackert hat, zeigt es sich, dass Vollkommer ihn zwar (natürlich) nicht erreicht, dass aber der Gegenstand so vielfältig, reichhaltig und faszinierend ist, dass man im Schatten des Meisterwerks durchaus bestehen kann (oder jedenfalls könnte, wenn ...).
Die kurze und die lange Weile
Die Stärke solcher wissenschaftlicher amuse-gueules liegt im anekdotischen Erzählen, im genüsslichen Zelebrieren der farbigen Einzelheit. Witzigerweise auch dann, wen es sich um das Außenherum und Dies und Das und Jenes handelt, um skurrile Details, die mit der eigentlichen Wissenschaft direkt rein gar nichts zu tun haben. Im Ernst! Wir lieben Klatsch und Tratsch! Dass Dominique Denon nicht nur das Pionierwerk „Reise nach Unter- und Oberägypten während der Feldzüge des Generals Bonaparte“ verfasste, sondern auch erotische Radierungen veröffentlichte und Josephine Beauharnais mit einem binnen 24 Stunden verfassten „Liebesroman ohne obszöne Passagen“ beeindruckte – das wird sicher auch die Nichten und Neffen interessieren! (C. W. Ceram hat sich selbstverständlich auch darüber ausgelassen.)
Leider kommt Vollkommer öfters als lieb eine déformation professionelle des Sammlers in die Quere: Er gerät ins Aufzählen. Das ermüdet leicht. Wenn er seitenlang aufführt, was man bei Ausgrabung der aztekischen Hauptpyramide in Mexiko-City alles gefunden hat. (Die mittelamerikanischen Kulturen sind berüchtigt für ihre wuchernde Ornament- und Detailverliebtheit.) Oder wenn er getreulich die zahllosen Beiträger zur Entschlüsselung alter Schriften jeweils mit Geburts- und Todesjahr, aber eher spärlichen Informationen zu ihrer jeweiligen Leistung aufführt. Das liest sich so spannend wie altbiblische Stammtafeln.
Manchmal ist weniger mehr, manchmal mehr mehr. Über den aktuellen Stand der Forschung, über offene Rätsel und konkurrierende Thesen wünschte man sich etwas eingehenderen Bericht. Und gelegentlich eine kritischere Haltung, einen schärferen Blick. Dass die neolithische Revolution stattfand, weil die Schaffung religiöser Kultstätten Sesshaftigkeit und damit Ackerbau verlangte – soll das einleuchtend sein? War es nicht eher umgekehrt? Erst das Fressen, dann die Moral, erst der Acker, dann der Tempel? Wäre es für die Jäger und Sammler denn nicht viel praktischer gewesen, sich einfach eine transportable Religion auszudenken? Aber das ist wohl keine akademisch korrekte Fragestellung. Oder bei der Erforschung verborgener Schächte in der Cheops-Pyramide mit Hilfe des Roboters „Upuaut“ – war da nicht was? Täusche ich mich, oder gab es da hässliche Auseinandersetzungen um das Hausrecht in dem alten Gemäuer, um die Frage also, wer wem warum das Forschen erlauben oder verbieten können darf? Gehören solch unschöne Unsterne etwa nicht zu den schönen Sternstunden?
Eine Hinführung zur Weiterführung
So bleiben gewisse Mängel. Ein Mangel allerdings ist keiner. Wenn man unzufrieden den Eindruck hat, das alles sei zu wenig, so hat das Buch seinen Zweck erfüllt. Es weist über sich hinaus. Mit das Beste an ihm sind die konzentrierten, sehr hilfreichen Literaturlisten, anschließend an die jeweiligen Kapitel.
Literaturangaben:
VOLLKOMMER, RAINER: Neue Sternstunden der Archäologie. Verlag C. H. Beck, München 2006. 280 S., 11,90 €.
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