„Pekinger Passion“. Solch ein Titel klingt recht hochgestochen und weckt demzufolge hohe Erwartungen beim fernöstlich geneigten Leser. Und die werden nach gut hundert Seiten leider auch enttäuscht. Schließlich geht es in der „Kriminalnovelle“ des Schweizer Schriftstellers Jürg Amman lediglich um die Passion eines spätpubertierenden Chinesen, der sich in eine Geschichtslehrerin verliebt, ihr Briefe und Gedichte schreibt, von ihr tatsächlich oder vermeintlich verführt wird. Und die ihn dann mit einem älteren Mann betrügt, der vermutlich mit ihr verwandt ist. Seiner Wut, Eifersucht oder perversen Veranlagung folgend soll er sie getötet und dann bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt haben.
So lauten im Kern die Versionen des vermutlichen Täters, der Mutter der Lehrerin, des ermittelnden Beamten und des Staatsanwalts, die Amann nacheinander berichten lässt. Doch ihre Beobachtungen und Urteile werden Lügen gestraft, als das vermeintliche Opfer nach zwanzig Jahren wieder quicklebendig in der Heimat auftaucht und zu guter Letzt ihre Version der Geschichte zum Besten gibt. Der Körper der damals gefundenen Leiche gehörte nämlich einer anderen, niemals identifizierten Frau gleichen Alters und gleicher Statur.
Wie es sich nach den Regeln der Novellentheorie gehört, handelt auch Amanns Text von einer „unerhörten Begebenheit“ (Goethe), der ein tieferer Sinn innewohnen soll. Es soll darin um nichts weniger gehen als die Wahrheit, die für Menschen nun mal eine andere ist – weil jeder immer einen Teil der ganzen Geschichte kennt und diesen auch individuell interpretiert. Dieses Vexierspiel mit der Wahrheit ist in der Literaturgeschichte allerdings nicht neu und Amann weiß ihm auch keine wirklich neue Variante hinzuzufügen. Er reizt es nicht wirklich aus, sondern dokumentiert die nur wenig aufschlussreichen Rechtfertigungen all derjenigen, die mit ihren Aussagen und den Indizien das Schicksal des aus welchen Gründen auch immer geständigen Jungen besiegelt haben.
Leider passt in diesem fiktiven Kriminalfall nicht alles zusammen, wie der Klappentext behauptet. Denn trotz des Geständnisses warf der bestialische Mord bei den Behörden damals durchaus noch Fragen auf. Wie der Staatsanwalt in seinem nachträglichen Bericht selbst zugibt, war das Täterbild doch „nicht ganz einheitlich gewesen“ und die Tatwerkzeuge unauffindbar. Wieso sollte der Täter das Opfer erst unkenntlich machen und später den Mord freiwillig zugeben, wenn gegen ihn nicht mehr als ein Verdacht besteht? Und wieso konnte der Täter sich nicht mehr an die Tatwerkzeuge und ihren Verbleib erinnern? Fragen über Fragen, die auch die tot geglaubte Lehrerin nicht beantworten kann. Aber genau darauf haben wir doch gewartet und werden am Ende mit einer recht einfallslosen Pointe abgespeist.
Man hätte die Relativität der Wahrheit raffinierter beleuchten und dabei auch auf die oberflächliche Exotik verzichten können. Sie verleiht der Geschichte weder eine besonders spezifische Atmosphäre noch bringt sie uns die fernöstliche Mentalität näher. Auch auf das philosophische Problem wirft sie kein neues Licht. Die eigentlich „unerhörte Begebenheit“ in diesem Buch besteht darin, den Leser in seinen Erwartungen enttäuscht zu haben.
Literaturangaben:
AMANN, JÜRG: Pekinger Passion. Kriminalnovelle. Arche Verlag, Zürich 2008. 128 S., 16 €.
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