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Unendlich viele Flocken

Orhan Pamuks neuester Roman: „Schnee“

© Die Berliner Literaturkritik, 01.09.05

 

Dichter Schnee, im Türkischen „Kar“, bedeckt die ostanatolische Stadt Kars und füllt deren Luft mit zähen Flocken, als der Schriftsteller Ka eintrifft. Bereits die Namen verweisen auf die zentrale Bedeutung des Schnees im jüngsten Roman von Orhan Pamuk, der am 23. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Erst der Schnee schafft die Grundlage für das abenteuerliche Geschehen im Spannungsfeld von Politik, Religion und Identitätssuche, indem er das Provinznest für drei Tage von der Außenwelt abschneidet und dadurch eine abgeschlossene Welt mit eigenen Gesetzen schafft. Und schließlich liefert die kristalline Struktur der Schneeflocke – wie zu zeigen sein wird – das geometrische Erklärungsmuster für Kas Erlebnisse.

Ka, in die Jahre gekommener Lyriker, hatte sich nach einer behüteten Kindheit im wohlhabenden Istanbuler Stadtteil Nisantasi – der im Laufe des Romans stellvertretend für Kas säkular-intellektuelle Herkunft steht – in den 1970er Jahren der extremen Linken angeschlossen und war als politisch Verfolgter in Deutschland untergekommen. Diese biographischen Hintergründe erhalten wir ebenso wie erläuternde Bemerkungen und Zukunftsverweise von einem Erzähler, der sogar den Namen Orhan trägt und die Geschichte seines Freundes nachverfolgt. Und nun ist Ka wieder zurück in seiner Heimat – allerdings nicht in der Weltstadt Istanbul mit ihrem aufgeklärten Bürgertum, sondern ganz fern im Osten. Und hier weht ein anderer Wind.

Fremde Heimat

Zwei Motive führt Ka zunächst für seine Reise in das fremde Gebiet an: Es finden Wahlen statt (aus denen die islamistische Partei aller Voraussicht nach als Sieger hervorgehen wird), und eine unerklärliche Selbstmordwelle erschüttert die Stadt. Opfer sind ausschließlich junge, religiöse Mädchen. Ka will recherchieren, für Istanbuler Zeitungen berichten, doch schnell wird klar, dass andere Dinge im Vordergrund stehen. In seiner Frankfurter Wahlheimat ist er einsam – und hofft, in seiner schönen Studienfreundin Ipek, die inzwischen in Kars lebt, eine Partnerin zu finden.

Und noch mehr als das: Ka ist auf der Suche nach seiner eigenen Identität, nach seinem Land, das er seit langer Zeit nicht mehr kennt und das von widerstrebenden Kräften dominiert wird. Islamisten und säkulare Kemalisten, repräsentiert durch Regierung und Militär, liefern sich einen erbitterten Kampf um Macht und Ideen, in den Ka bald verwickelt wird und der ihn zuletzt einholt, als der Dichter längst nach Frankfurt zurückgekehrt ist.

Seit langem tobt in diesem abgelegenen Winkel der Türkei die Auseinandersetzung. Universitätsdirektoren werden von Radikalen erschossen, weil sie Kopftuch tragende Mädchen am Hochschulbesuch hindern; junge islamistische Studenten werden von der Polizei gefoltert, weil sie im Theater mit lauten Zwischenrufen auffällig wurden. In dieser Welt der Unsicherheit, Radikalität und Armut wandelt der Dichter Ka und sucht seinen Platz, während er sich der Dynamik der Ereignisse widerstandslos aussetzt.

Politik und Religion

Kurz nach Kas Eintreffen hat der Schnee, der „alle Unterschiede zwischen den Feinden verwischt“, die Stadt Kars von der Außenwelt abgeschnitten. Eine zufällig anwesende Schauspielertruppe nutzt die Gelegenheit und putscht sich mit Hilfe einiger Soldaten in der eingeschneiten Stadt an die Macht. Religiöse werden unnachsichtig und brutal verfolgt, angebliche Terroristen getötet. Ka, als „Westler“ von den Einheimischen gleichzeitig für wichtig und suspekt gehalten, steht durch seine Beziehung zu Ipek und deren religiöser Schwester auch mit den Islamisten in Kontakt und wird als Vermittler angeworben.

Hier findet er seine wahre Bestimmung und ist auf dem richtigen Weg, er findet Anschluss an die verloren geglaubte Religion seiner Landsleute und erfährt eine nie gekannte Inspiration, die ihm eine Reihe an Gedichten gleichsam eingibt. Seine Eifersucht und die Furcht, Ipek zu verlieren, machen jedoch schließlich alles zunichte. Wie tief der Graben zwischen Ka und seinen religiösen Landsleuten ist, wird deutlich, wenn der Islamist Lapislazuli ihm vorwirft: „Weil du ein bisschen europäisiert worden bist und gelernt hast, die Religion und die Traditionen deines Volkes herzlich zu verachten, hältst du Dich für den Herrn der Nation. Deiner Ansicht nach führt in diesem Land der Weg dazu, gut und moralisch sauber zu sein, nicht über die Religion, über Gott und darüber, das Leben des Volkes zu teilen, sondern darüber, dass man den Westen imitiert.“

Doch eines bleibt: Die 19 Gedichte, die Ka in diesen Tagen zufallen und die er an den drei Achsen eines Schneekristalls anordnet, welche die Bezeichnungen „Vernunft“, „Phantasie“ und „Erinnerung“ tragen. Interessanterweise erfährt der Leser so gut wie nichts über den Inhalt dieser Gedichte. Sie sind jedoch der Anlass für Kas Freund Orhan, den Erzähler, sich in die Geschichte einzuschalten, alle Fakten zu recherchieren und sie uns zugänglich zu machen. Aber auch ihm gelingt es nicht, das grüne Heft mit Kas Gedichten aufzufinden.

Das ist die Türkei

Pamuk entwirft mit seinem Roman das Bild einer Türkei jenseits von Großstädten und aufgeklärtem Bürgertum. Im Hinterland, in armen Provinzstädten, begehren junge Menschen auf, die sich nicht mit einer Anpassung an das westeuropäische Gesellschaftsverständnis zufrieden geben wollen. Ka begegnet dieser Welt, der provinziellen Türkei, zunächst mit ähnlicher Verwunderung wie der deutsche Leser. Doch schnell wird deutlich: Während Kas Suche nach seiner Identität als Intellektueller, als Türke, Muslim, als Europäer und als Exponent der westlichen Moderne zeichnen die Geschehnisse für Ka wie für den Leser ein Porträt des Landes Türkei.

Dabei werden alle Aspekte angeschnitten: Wirtschaftliche und soziale ebenso wie politische; der Kampf zwischen religiösen Fundamentalisten und der Staatsmacht; der Kurdenkonflikt, die Auseinandersetzung mit Europa, die Vertreibung der Armenier. Es gelingt dem Roman auf diese Weise, die oftmals vagen Vorstellungen über dieses Land zwischen Asien und Europa, zwischen Laizismus und Islamismus mit Leben zu füllen. Dabei kommen Schilderungen der Absurditäten nicht zu kurz, die entstehen, wenn ein radikal-laizistischer Staat auf radikal-fundamentalistische Muslime trifft. Die eine oder andere stilistische Fragwürdigkeit ist dabei zu verschmerzen.

Trotz seiner Anleihen bei Kriminalerzählung, Entwicklungsroman und Liebesgeschichte ist „Schnee“ daher vor allem ein politisch-gesellschaftlicher Roman und entwickelt in diesem Gebiet auch seine größten Stärken. Ein paar weitere Lehren bekommt der Leser ebenfalls mit auf den Weg, etwa über die zerstörerische Kraft der Eifersucht. Eines fällt dabei auf: Werden in Dialogen entscheidende, schwierig zu beantwortende, „letzte“ Fragen gestellt, fällt gerne mal der Strom aus. Hat da etwa Allah seine Finger im Spiel? (Philipp Hoelscher)

Literaturangaben:
PAMUK, ORHAN: Schnee. Roman. Übersetzt aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Carl Hanser Verlag, München 2005. 512 S., 25,90 €.


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